Die Räuberbraut
nächsten Morgen warten konnte.
Als sie wach wurde, war es Mittag, und jemand hämmerte gegen die Tür. Wahrscheinlich West, der zurückgekommen war, weil er etwas vergessen hatte. (Seine Unterwäsche war aus der Schublade verschwunden, seine säuberlich gewaschenen Socken, von Tony gewaschen und sorgsam paarweise zusammengelegt. Er hatte einen Koffer mitgenommen.)
Tony ging zur Tür. »Geh weg«, sagte sie.
»Ich bin’s, Süße«, sagte Roz auf der anderen Seite. »Mach die Tür auf, Schätzchen, wenn ich nicht sofort auf ein Klo komme, überschwemm ich dieses ganze Stockwerk.«
Tony wollte Roz nicht hereinlassen, weil sie niemanden hereinlassen wollte, brachte es aber nicht über sich, eine Freundin in urinarischer Not abzuweisen. Also nahm sie die Kette ab und entriegelte die Tür, und hereingewatschelt kam Roz, die mit ihrem ersten Baby schwanger war. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, stöhnte sie. »Ein noch fetterer Körper. Ich esse für fünf!« Tony lachte nicht. Roz sah Tony ins Gesicht, dann schlang sie ihre immer dicker werdenden Arme um sie. »Ach, Liebchen«, sagte sie; und dann, mit neugefundener persönlicher wie auch politischer Erkenntnis: »Männer sind solche Schweine!«
Tony war leise entrüstet. West war kein Schwein. Er sah nicht einmal wie eins aus. Eher wie ein Strauß. West kann nichts dafür, wollte sie sagen. Sie ist schuld. Ich hab ihn geliebt , aber er hat mich nicht geliebt , nicht wirklich. Wie hätte er das auch gekonnt? Er war die ganze Zeit über besetztes Territorium. Aber sie konnte nichts von all dem sagen, weil sie überhaupt nicht sprechen konnte. Außerdem konnte sie nicht atmen. Oder vielmehr, sie konnte nur einatmen. Sie atmete ein und ein und gab schließlich ein Geräusch von sich, einen Klagelaut, einen langgezogenen Klagelaut, der nicht mehr aufhören wollte, wie eine ferne Sirene. Dann brach sie in Tränen aus. Brach wie ein Damm. Sie hätte das nicht tun können, wenn die Tränen nicht die ganze Zeit über da gewesen wären, ein riesiger, nicht wahrgenommener Druck hinter den Augen. Die Tränen liefen ihr nur so über das Gesicht; sie leckte sie mit der Zunge ab, schmeckte sie. Im Mittelalter glaubte man, nur Menschen ohne Seelen könnten nicht weinen. Folglich hatte sie eine Seele. Der Gedanke war kein Trost.
»Er wird zurückkommen«, sagte Roz. »Ich weiß, daß er zurückkommen wird. Wozu braucht sie ihn schon? Sie wird ein Stück aus ihm herausbeißen und ihn dann wegwerfen.« Sie wiegte Tony vor und zurück, vor und zurück, das meiste an Mutter, was Tony je gehabt hatte.
Roz zog zu Tony in die Wohnung, nur so lange, bis Tony wieder funktionierte. Sie hatte eine Haushälterin, und Mitch, ihr Mann, war wieder einmal unterwegs, folglich mußte sie nicht unbedingt bei sich zu Hause sein. Sie rief in der Uni an und sagte Tonys Vorlesungen mit der Begründung ab, Tony habe eine Mandelentzündung. Sie bestellte Lebensmittel und fütterte Tony mit Hühnersuppe aus der Dose und Karamellpudding und Erdnußbutter- und Bananensandwiches und Traubensaft: Babynahrung. Sie steckte sie in die Badewanne und spielte ihr beruhigende Musik vor und erzählte ihr Witze. Sie wollte Tony mit zu sich in ihr Haus in Rosedale nehmen, aber Tony wollte die Wohnung nicht verlassen, nicht einmal für eine Sekunde. Was, wenn West zurückkäme? Sie wußte nicht, was passieren würde, wenn er das täte, aber sie wußte, daß sie dann da sein mußte. Sie mußte die Möglichkeit haben, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen oder ihm in die Arme zu fallen. Bloß daß sie nicht zwischen den beiden Möglichkeiten wählen wollte. Sie wollte beides.
»Er hat dich angerufen, nicht wahr?« sagte Tony, als mehrere Tage auf diese Weise vergangen waren und sie sich nicht mehr ganz so ausgeweidet fühlte.
»Ja«, sagte Roz. »Weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt, daß er sich Sorgen um dich macht. Nett, findest du nicht?«
Tony fand nicht, daß es nett war. Sie war davon überzeugt, daß Zenia ihn dazu veranlaßt hatte. Um das Messer in der Wunde umzudrehen.
Es war Roz, die den Vorschlag machte, Tony solle die Wohnung aufgeben und sich ein Haus kaufen. »Die Preise sind im Augenblick phantastisch! Du hast das Geld für die Anzahlung – du mußt nur ein paar von deinen Pfandbriefen verkaufen. Betrachte es einfach als Investition. Außerdem solltest du wirklich hier ausziehen. Wer braucht schon miese Erinnerungen?« Sie besorgte Tony einen guten Makler, fuhr mit ihr von Haus zu
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