Die Räuberbraut
bei Lampenlicht, wenn sie arbeiten kann, kann sie dieses Weinen unter Verschluß halten. Aber der Schlaf ist tödlich. Tödlich und unvermeidlich.
Sie nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen. Von der Straße aus muß ihr Zimmer wie ein Leuchtturm wirken, ein Leuchtfeuer. Warm und fröhlich und sicher. Aber Türme haben auch andere Verwendungszwecke. Sie könnte kochendes Öl aus dem linken Fenster kippen und mit tödlicher Sicherheit jeden treffen, der vor der Haustür steht.
Zum Beispiel West, oder Zenia, Zenia und West. Sie denkt zu viel über sie nach, sie und ihre ineinander verschlungenen Körper. Handeln wär besser. Sie denkt daran, zu ihrer Wohnung zu fahren (sie weiß, wo die beiden leben, es war nicht schwer, das herauszufinden, West steht im Adressenverzeichnis der Universität), und Zenia zur Rede stellen. Aber was würde sie sagen? Gib ihn zurück ? Zenia würde nur lachen. »Er ist ein freier Mensch«, würde sie sagen. »Er ist erwachsen, er kann tun und lassen, was er will.« Oder etwas in der Art. Und wenn sie plötzlich vor Zenias Tür stünde, um zu jammern und zu bitten und zu betteln, wäre das nicht genau das, was Zenia will?
Sie erinnert sich an eine Unterhaltung, die sie mit Zenia hatte, früher, als sie noch im Christie’s Kaffee tranken und Zenia so eine gute Freundin war.
Was hättest du am liebsten? sagte Zenia. Von anderen Leuten. Liebe, Respekt oder Furcht?
Respekt, sagte Tony. Nein, Liebe.
Ich nicht, sagte Zenia. Ich würde die Furcht wählen.
Wieso? sagte Tony.
Sie funktioniert besser, sagte Zenia. Sie ist das einzige, was funktioniert.
Tony weiß noch, daß sie von dieser Antwort sehr beeindruckt war. Aber Zenia hat West nicht durch Furcht gestohlen. Nicht durch einen Kraftakt. Sondern durch den Anschein der Schwäche. Die ultimative Waffe.
Sie könnte jederzeit die Pistole nehmen.
Fast ein Jahr lang hörte sie nichts von West; kein Wort – zum Beispiel – über Anwälte oder Scheidung; nicht einmal eine Petition wegen des Spinetts oder der Laute, die Tony in ihrem neuen Wohnzimmer als Geiseln hielt. Tony wußte, wieso West so wortlos war. Weil er sich wegen dessen, was er getan hatte, oder vielmehr dessen, was ihm angetan worden war, zu schrecklich fühlte. Er schämte sich zu sehr.
Nach einer Weile fing er an, schüchterne Nachrichten bei Tonys Antwortdienst zu hinterlassen und vorzuschlagen, sich auf ein Bier zu treffen. Tony reagierte nicht darauf, nicht, weil sie wütend auf ihn war -sie wäre auch nicht wütend auf ihn gewesen, wenn er von einem Lastwagen überfahren worden wäre, und für sie war eine Verführung durch Zenia fast das gleiche –, sondern weil sie sich nicht vorstellen konnte, welche Form eine Unterhaltung zwischen ihnen annehmen könnte. Wie geht’s dir und Gut wäre so ungefähr alles. Und so kam es, daß sie West, als er endlich vor ihrer neuen Tür stand, der Tür ihres neuen Hauses, der Tür ihres Klosters, einfach nur anstarrte.
»Läßt du mich rein?« sagte West. Tony sah auf den ersten Blick, daß es zwischen Zenia und West aus war. Sie sah es an der Farbe seiner Haut, die grünlichgrau wirkte, und an seinen hängenden Schultern, und an seinem trostlosen Mund. Er war verabschiedet worden, entlassen, rausgeschmissen. Er hatte einen Tritt in die Eier bekommen.
Er sah so bemitleidenswert aus, so zerrissen – als hätte man ihn auf ein Streckbett gespannt, als wäre jeder einzelne seiner Knochen von jedem anderen Knochen abgetrennt worden, so daß nur eine Art anatomischer Wackelpudding übrigblieb –, daß sie ihn natürlich hereinließ. In ihr Haus, in ihre Küche, wo sie ihm etwas Heißes zu trinken machte, und schließlich in ihr Bett, wo er sich zitternd an sie klammerte. Es war kein sexuelles Klammern, es war das Klammern eines Ertrinkenden. Aber Tony war nicht in Gefahr, in die Tiefe gezogen zu werden. Falls überhaupt, kam sie sich seltsam trocken vor, seltsam losgelöst von ihm. Er mochte am Ertrinken sein, aber dieses Mal stand sie am Strand. Schlimmer noch: mit einem Fernglas.
Sie fing wieder an, kleine Mahlzeiten und Frühstückseier zu kochen. Sie wußte noch, wie sie für ihn sorgen mußte, wie sie ihn wieder in Form klopfen mußte, und sie tat es auch dieses Mal; aber dieses Mal mit weniger Illusionen. Sie liebte ihn immer noch, aber sie glaubte nicht mehr, daß er sie je zurücklieben würde, nicht im selben Maß. Wie könnte er, nach dem, was er durchgemacht hatte? Konnte ein einbeiniger Mann steptanzen?
Und
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