Die Räuberbraut
sagt Tony.
»Das ist nur Schau«, sagt West. »Das hab ich immer gewußt. Sie ist ein gezeichneter Mensch.« Gezeichnet , denkt Tony. Das kann nur Zenias Vokabular sein. West ist hypnotisiert worden: es ist Zenia, die spricht, aus dem Inneren seines Kopfes spricht. Er fährt fort: »Sie wird völlig vor die Hunde gehen, wenn ich nicht etwas unternehme.«
Etwas bedeutet, daß West zu Zenia ziehen wird. Das wird, so sagt West, Zenia einen Teil ihres verlorengegangenen Selbstvertrauens zurückgeben. Tony würde am liebsten laut und höhnisch lachen, aber wie könnte sie das? West sieht sie ernsthaft an, er will, daß sie ihn versteht und ihm die Absolution erteilt und ihm ihren Segen gibt, als wäre er immer noch Herr über seinen eigenen Kopf. Dabei ist er ein Zombie.
Er hält Tonys Hände, am Küchentisch. Sie zieht sie zurück und geht in ihr Arbeitszimmer und macht die Tür zu und vertieft sich in die Schlacht von Waterloo. Als sie vorbei war, feierten die siegreichen Soldaten und tranken die ganze Nacht und brieten das Fleisch der Pferde auf den metallenen Brustplatten der Toten und ließen die Verwundeten stöhnend und schreiend im Hintergrund liegen. Siege berauschen und machen gefühllos für die Leiden anderer.
27
Wie gut sie das gemacht hat, denkt Tony. Wie komplett sie uns reingelegt hat. Im Krieg der Geschlechter, der ganz und gar nicht wie ein richtiger Krieg ist, sondern eine Art konfuses Scharmützel, in dem die Beteiligten jeden Moment die Seiten wechseln, war Zenia eine Doppelagentin. Oder nicht einmal das, denn Zenia arbeitete weder für die eine noch für die andere Seite. Sie stand auf keiner Seite, außer auf ihrer eigenen. Es ist sogar möglich, daß ihre Faxen — Tony ist inzwischen alt genug, um sie als Faxen zu erkennen — kein anderes Motiv hatten als ihre Laune, ihre byzantinische Vorstellung von Spaß. Vielleicht log und folterte sie einfach nur aus Spaß an der Freude.
Aber ein Teil dessen, was Tony empfindet, ist auch Bewunderung. Trotz ihrer Mißbilligung, trotz ihrer Verzweiflung, trotz all ihrer vergangenen Ängste, gibt und gab es einen Teil in ihr, der Zenia zujubeln, sie sogar anfeuern, sie zu einer Legende machen wollte. Teilnehmen wollte an ihrem Wagemut, ihrer Verachtung für fast alles, ihrer Raubgier und ihrer Gesetzlosigkeit. Wie damals, als ihre Mutter auf dem Schlitten den Hügel hinuntersauste. Nein! Nein! Ja! Ja!
Aber diese Erkenntnis kam erst später. Als West sie verließ, war sie verheert. (verheeren, Verb, mit einem Heer überziehen, in weiter Ausdehnung verwüsten; ein vertrauter Begriff in der Literatur der Kriege, denkt Tony im Keller, während sie ihren Sandkasten mit den Überresten von Ottos Armee betrachtet und noch eine Nelke ißt.) Sie weigerte sich, zu weinen, sie weigerte sich, in Wehgeschrei auszubrechen. Sie lauschte auf West, der auf Zehenspitzen durch die Wohnung ging, als wäre er in einem Krankenhaus. Als sie hörte, wie die Wohnungstür hinter ihm zufiel, huschte sie hinaus und drehte den Schlüssel zweimal um und legte die Kette vor. Dann ging sie ins Badezimmer und schloß auch diese Tür ab. Sie nahm ihren Ehering ab (schlicht, Gold, keine Diamanten), um ihn in die Toilette zu werfen, legte ihn jedoch statt dessen auf ein Brett im Schränkchen, neben das Desinfektionsmittel. Dann rutschte sie auf den Boden. American Standard , stand auf der Toilette. Dradnats nacirema. Eine bulgarische Hautcreme.
Nach einer Weile kam sie aus dem Badezimmer, weil das Telefon klingelte. Sie stand da und starrte es an, es und seine brautliche, silberne Abdeckhaube; es klingelte immer weiter. Sie nahm den Hörer ab und ließ ihn sofort wieder auf die Gabel fallen. Es gab niemanden, mit dem sie reden wollte. Sie wanderte in die Küche, aber es war nichts da, was sie essen wollte.
Ein paar Stunden später ertappte sie sich dabei, wie sie die Schachtel mit dem Christbaumschmuck öffnete, in dem sie auch die deutsche Pistole ihres Vaters aufbewahrte, in rotes Seidenpapier eingeschlagen. Es gab sogar Kugeln dafür, in einer Hustenbonbondose aus Blech. Sie hatte noch nie im Leben eine Pistole abgefeuert, wußte aber in der Theorie, wie es ging.
Du brauchst Schlaf, sagte sie zu sich selbst. Sie konnte den Gedanken, in ihrem entweihten Bett zu schlafen, nicht ertragen, und so legte sie sich schließlich ins Wohnzimmer, unter das Spinett. Sie spielte mit dem Gedanken, es in Stücke zu hauen, mit irgendwas – dem Fleischbeil? –, beschloß aber, daß das bis zum
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