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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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und guckt, und Charis springt hinter einen Laternenmast und rennt sich dabei um ein Haar den Schädel ein. Als sie sich ein wenig von dem leuchtendroten Gefühl in ihrem Kopf erholt hat (Es ist kein Schmerz , es ist eine Farbe) und es wieder wagt, einen Blick zu riskieren, sind Zenia und der Mann stehengeblieben und unterhalten sich.
    Charis schlängelt sich näher an sie heran, eine Welle feindseliger Blicke und gemurmelter Kommentare auf dem Bürgersteig hinter sich herziehend und vage in die Richtung derer lächelnd, die mit ausgefransten Ärmeln und ausgestreckten Händen und den aufgedunsenen, eingefallenen Gesichtern von Menschen, die zuviel raffinierten Zucker essen, um den Preis einer Mahlzeit betteln. Charis hat kein Kleingeld bei sich, sie hat es als Trinkgeld im Kaffay Nwar zurückgelassen; sie hat überhaupt nicht viel Geld, Punkt, wenn auch mehr, als sie nach dem Essen im Toxique haben dürfte, weil es Roz war, die die Rechnung aufteilte, und ihre Berechnungen enden immer damit, daß Charis weniger bezahlt, als sie vermutlich zahlen sollte. Aber abgesehen davon hält Charis nichts davon, Schnorrern Geld zu geben, da sie der Meinung ist, daß Geld, genau wie Süßigkeiten, schlecht für einen ist. Sie würde ihnen jedoch ein paar von ihren selbstgezogenen Karotten geben, wenn sie könnte.
    Sie findet einen günstigen Beobachtungsposten hinter einem Hot- Dog-Stand mit einem knallgelben Schirm und legt sich dort auf die Lauer, trotz des anstößigen Geruchs (Schweineinnereien!) und der sündigen Getränkedosen (Chemikalien!), die neben dem Senf und den Gewürzen (reines Salz!) aufgereiht sind. Der Verkäufer fragt sie, was es denn heute sein darf, aber sie hört ihn kaum; sie ist zu sehr mit Zenia beschäftigt. Jetzt dreht der Mann in Zenias Begleitung sich um, so daß Charis sein Gesicht sehen kann, und Charis zuckt zurück, als hätte sie mit der Hand auf eine heiße Herdplatte gefaßt. Sie hat ihn erkannt: es ist Larry, Roz’ Sohn.
    Für Charis ist es immer wie ein Zeitsprung, wenn sie Roz’ Kinder als Erwachsene sieht, obwohl sie natürlich erwachsen geworden sind und sie selbst ihnen dabei zugesehen hat. Aber ihr Älterwerden ist trotzdem schwer zu glauben. Es ist, wie wenn Augusta im Nebenzimmer ist und Charis hereinkommt und erwartet, sie mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzen und mit ihrer Barbie-Puppe spielen zu sehen – Charis hatte das Ding zutiefst mißbilligt, war aber zu schwach gewesen, es wirklich zu verbieten – und sie statt dessen in einem Kostüm mit Schulterpolstern und mit hochhackigen Fersenriemchenschuhen in einem Sessel sitzt und sich die Nägel lackiert. O August! würde sie am liebsten sagen. Wo hast du bloß diese komischen Kostüme her? Dabei sind es ihre richtigen Sachen. Es kann einem wirklich das Herz brechen, wenn man seine Tochter in Kleidern herumlaufen sieht, die der eigenen Mutter gehört haben könnten.
    Und da ist also Larry, in Jeans und heller Wildlederjacke, den Kopf mit den karamelfarbenen Haaren zu Zenia hinuntergeneigt, eine Hand auf ihrem Arm. Der kleine Larry! Der ernsthafte kleine Larry, der den Mund verzog und die Stirn runzelte, während seine Zwillingsschwestern lachten und sich in den Arm zwickten und sich gegenseitig erzählten, sie hätten dicke Popel aus der Nase hängen. Charis hat sich in Gegenwart von Larry, oder vielmehr in Gegenwart seiner Steifheit, nie so richtig wohl gefühlt. Sie hatte immer das Gefühl, ein guter Massagetherapeut könnte Wunder bewirken. Aber Larry muß bedeutend lockerer geworden sein, wenn er zum Essen ins Toxique geht.
    Aber was macht er mit Zenia? Was macht er in diesem Augenblick mit Zenia? Er neigt sein Gesicht zu ihr hinab, Zenias Gesicht hebt sich ihm entgegen wie ein Fangarm, sie küssen sich! Wenigstens sieht es so aus.
    »Hören Sie, Lady, wollen Sie jetzt einen Hot Dog oder nicht?« sagt der Verkäufer.
    »Was?« sagt Charis aufgeschreckt.
    »Verzieh dich, du alte Tranfunzel«, sagt der Verkäufer. »Geh zurück in deine Anstalt. Du belästigst meine Kunden.«
    Wenn Charis Roz wäre, würde sie sagen: Was für Kunden ? Aber wenn Charis Roz wäre, stünde sie jetzt wahrscheinlich völlig unter Schock. Zenia und Larry! Sie ist mindestens doppelt so alt wie er! denkt der Teil von Charis, der aus der Zeit übriggeblieben ist, in der das Alter in einer Beziehung zwischen Frau und Mann angeblich eine Rolle spielte. Die Charis der Gegenwart ermahnt sich, nicht die Richterin zu spielen. Warum sollten Frauen nicht

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