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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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die Perversität, den hartnäckigen Widerstand, die bösartige Verseuchung der materiellen Welt dar. Einen Körper zu haben, in einem Körper zu stecken, ist so, als wäre man mit einer kranken Katze zusammengebunden.
    Sie steht auf der Fähre, an die Reling gelehnt, den Blick nach hinten gerichtet, und beobachtet, wie das Kielwasser aufschäumt und mit dem notorisch verdreckten See verschmilzt, sich in einer einzigen, fließenden Bewegung bildet und wieder auslöscht. Licht glänzt auf dem Wasser, nicht mehr weiß, sondern zunehmend gelblich; es ist Nachmittag, und da verschwindet die Sonne, da verschwindet der Tag, dahin, wohin alle anderen Tage verschwunden sind, von denen jeder einzelne etwas mit sich fortnahm. Sie wird keinen dieser Tage zurückbekommen, einschließlich derer, die sie hätte haben sollen, aber nicht hatte, Tage mit Billy. Es war Zenia, die sich mit diesen Tagen aus dem Staub machte. Sie nahm sie Charis weg, die jetzt nicht einmal voller Zärtlichkeit auf sie zurückblicken kann. Es ist, als hätte Zenia sich in ihr Haus eingeschlichen, als sie selbst nicht da war, und die Fotos aus ihrem Album gerissen, dem Album, das sie nicht besitzt, außer in ihrem Kopf. Mit einem einzigen Griff, einem einzigen Ruck, hat Zenia ihr die Zukunft und die Vergangenheit gestohlen. Hätte sie sie ihr nicht ein wenig länger lassen können? Nur einen Monat, nur eine Woche, nur ein wenig länger?
    In der spirituellen Welt (die sie jetzt betreten hat, weil die Fähre mit ihrem einschläfernden Motor und ihrem sanften Schaukeln oft diese Wirkung auf sie hat) sinkt Charis’ Astralleib auf die Knie und hebt Zenias Astralleib, der rot brennt, bittende Hände entgegen. Eine rote Flammenkrone, wie aus gezackten Blättern oder altmodischen Schreibfedern, strahlt um Zenias Kopf, eine Leere im Inneren jeder Flamme. Mehr Zeit, mehr Zeit, bittet Charis. Gib zurück, was du genommen hast!
    Aber Zenia wendet sich ab.

29
    Die Geschichte von Charis und Zenia begann an einem Mittwoch der ersten Novemberwoche des ersten Jahres der siebziger Jahre. Siebzig. Für Charis sind beide Teile dieser Zahl von Bedeutung, die Sieben genauso wie die Null. Eine Null bedeutet immer den Anfang von etwas, und gleichzeitig ein Ende, denn sie ist Omega: ein rundes, in sich geschlossenes O, der Eingang eines Tunnels oder sein Ausgang, ein Ende, das gleichzeitig ein Anfang ist, denn obwohl dieses Jahr den Anfang des Endes von Billy erlebte, war es auch das Jahr, in dem ihre Tochter August anfing zu beginnen. Und sieben ist eine Primzahl, zusammengesetzt aus einer Vier und einer Drei – oder zwei Dreien und einer Eins, was Charis lieber ist, weil Dreien anmutige Pyramiden und außerdem die Zahl der Göttin sind, und Vieren nichts weiter als schachtelähnliche Vierecke.
    Sie weiß, daß es ein Mittwoch war, weil der Mittwoch der Tag war, an dem sie immer in die Stadt fuhr, um sich mit ihren beiden Yoga-Kursen ein bißchen Geld zu verdienen. Sie gab die Kurse auch freitags, bloß daß sie dann außerdem länger blieb, um in der Furrows-Lebensmittel-Koop ihren Anteil an freiwilliger Arbeit zu leisten. Sie weiß, daß es November war, weil der November der elfte Monat ist, der Monat der Toten, aber auch der Monat der Wiedergeburt. Sonnenzeichen Skorpion, Regent Mars, Farbe Dunkelrot. Sex, Tod und Krieg. Synchronizität.
    Der Tag beginnt als Nebel. Charis sieht den Nebel, als sie aus dem Bett klettert, oder vielmehr herausrutscht, denn das Bett ist eine Matratze auf dem Boden. Sie geht ans Fenster, um hinauszusehen. Ein winziger, transparenter Regenbogen klebt an der Scheibe, aber es war nicht Charis, die ihn dorthin geklebt hat, er ist von den Vormietern übriggeblieben, einer Gruppe ausgebrannter Hippies, die außerdem mit Magic Marker Bilder auf die geblümte, verblaßte Tapete malten – nackte, kopulierende Menschen und Katzen mit Heiligenscheinen – und mitten in der Nacht die Doors und Janis Joplin auf volle Lautstärke aufdrehten und haufenweise menschliche Exkremente im Garten zurückließen. Zum Schluß wurden sie mit Hilfe der Nachbarn vom Besitzer des Hauses auf die Straße gesetzt, nach einer kreischenden LSD-Party, in deren Verlauf einer von ihnen im Wohnzimmer einen schwarzen Sitzsack aus Plastik in Brand steckte, weil er dachte, er wäre ein fleischfressender Pilz. Der Vermieter – ein alter Mann, der am anderen Ende der Straße wohnt – war froh über Charis und Billy, weil sie nur zu zweit waren und keine riesigen Lautsprecher hatten,

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