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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Gummistiefel steckt, auf die Kante des Blatts, drückt den Spaten tief ein. Dann stemmt sie sich ächzend auf den Stiel. Sie dreht die herausgehobene Erde um. Würmer saugen sich in ihre Tunnel zurück, eine weiße Made ringelt sich zusammen. Charis nimmt sie und wirft sie ohne Skrupel über den Zaun zu den gackernden Hühnern. Alles Leben ist heilig, aber Hühner sind heiliger als Maden.
    Die Hühner lärmen und krakeelen und picken sich gegenseitig und hetzen dann hinter dem einen her, das die Made erwischt hat. Früher hat Charis gedacht, es sei eine gute spirituelle Übung, den Hühnern nichts zu fressen zu geben, was sie nicht auch selbst essen würde, aber inzwischen ist sie zu dem Schluß gekommen, daß das unsinnig wäre. Die zerstoßenen Eierschalen zum Beispiel, die gemahlenen Knochen – die Hühner brauchen sie, um Eier zu produzieren, Charis aber braucht sie nicht.
    Es ist die falsche Jahreszeit, um den Garten umzugraben. Sie sollte bis zum Frühjahr warten, bis die neuen Unkräuter zum Vorschein kommen; sie wird alles noch einmal machen müssen. Aber es ist die einzige Möglichkeit für sie, aus dem Haus zu kommen, ohne daß Zenia oder Billy mit ihr kommen wollen. Jeder der beiden ist versessen darauf, mit ihr allein zu sein, ohne den jeweils anderen. Wenn sie versucht, einen Spaziergang zu machen, nur um ein bißchen allein zu sein, nur um ein bißchen zur Ruhe zu kommen, setzt ein wahrer Sturm auf die Tür ein: ein gedämpfter, verstohlener Sturm (Zenia), oder ein schlaksiger, offensichtlicher Sturm (Billy). Dann kommt es zu einem Zusammenstoß der Psychen, und Charis ist gezwungen, sich zu entscheiden, was ihr ganz und gar nicht gefällt. Aber zum Glück verspürt keiner der beiden den Drang, ihr dabei zu helfen, den Garten umzugraben. Billy wühlt nicht gerne im Dreck herum – er sagt, wozu all die viele Mühe, wenn alles, was hinterher dabei herauskommt, nur Gemüse ist –, und Zenia ist natürlich nicht in der Verfassung. Sie kann inzwischen vorsichtige, gelegentliche Spaziergänge machen, zum Ufer des Sees und wieder zurück, aber selbst diese Spaziergänge erschöpfen sie.
    Zenia ist seit einer Woche hier, nachts schläft sie auf dem Sofa, tagsüber ruht sie sich darauf aus. Der Abend ihrer Ankunft war fast festlich – Charis ließ ihr ein heißes Bad einlaufen und gab ihr eins ihrer eigenen, weißen Baumwollnachthemden zum Anziehen und hängte ihre nassen Kleider zum Trocknen an die Haken hinter dem Herd, und als Zenia mit ihrem Bad fertig war und das Nachthemd angezogen hatte, wickelte Charis sie in eine Decke und setzte sie auf einen Stuhl am Herd und kämmte ihr die nassen Haare und machte ihr eine heiße Milch mit Honig. Es machte Charis Freude, diese Dinge zu tun; sie erlebte sich als kompetent und tugendhaft, überströmend von Wohlwollen und positiver Energie. Es machte ihr Freude, diese Energie an jemanden zu verschenken, der sie so offensichtlich brauchte wie Zenia. Aber als sie Zenia auf dem Sofa untergebracht hatte und nach oben ins Bett kam, war Billy böse auf sie und ist es seitdem ständig. Er hat ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, daß er Zenia nicht im Haus haben will.
    »Was will sie hier?« flüsterte er in der ersten Nacht.
    »Es ist doch nur für kurze Zeit«, sagte Charis, ebenfalls flüsternd, weil sie nicht wollte, daß Zenia sie hörte und das Gefühl bekam, unerwünscht zu sein. »Wir hatten Unmengen anderer Leute hier. Auf demselben Sofa. Es ist überhaupt kein Unterschied.«
    »Es ist ein himmelweiter Unterschied«, sagte Billy. »Sie konnten sonst nirgends hin.«
    »Sie auch nicht«, sagte Charis. Der Unterschied, dachte sie, bestand darin, daß die anderen Billys Freunde waren, und Zenia ihre Freundin. Nun, nicht direkt Freundin. Verantwortung.
    Das war, bevor Billy Zenia auch nur zu Gesicht bekommen oder ein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte. Am nächsten Tag hatte er ein unfreundliches Morgen gebrummt, über den Rühreiern – nicht selbst produziert, leider, die Hühner legten nicht mehr – und dem Toast mit Apfelgelee, den Charis den beiden auftischte. Er hatte Zenia kaum angesehen, die zusammengesunken am Tisch saß, immer noch in Charis’ Nachthemd, eine Decke um die Schultern gehängt, und an ihrem schwachen Tee nippte. Wenn er sie angesehen hätte, dachte Charis, wäre er bestimmt weich geworden, denn Zenia sah so mitleiderregend aus. Ihr Auge war immer noch verfärbt und geschwollen, und man konnte die blauen Adern auf ihrem Handrücken

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