Die Räuberbraut
mich so, ich hab das Gefühl, daß ich diejenige bin, die dafür verantwortlich ist.«
Charis versucht, sich an Stew zu erinnern, oder an West, dessen Name sich einst ebenso abrupt geändert hat wie ihr eigener. Sie sieht einen großgewachsenen Mann, einen irgendwie in sich gekehrten und losgelösten Mann, sanft wie eine Giraffe. Sie kann sich nicht vorstellen, daß er jemanden schlagen könnte, schon gar nicht Zenia; aber das Äußere von Menschen kann täuschen. Vor allem von Männern. Sie können so tun, als wären sie gut, sie können einen glauben machen, daß sie vorbildliche Bürger sind und daß sie im Recht sind und du im Unrecht. Sie können jeden an der Nase herumführen und dich als Lügnerin hinstellen. Anscheinend gehört West zu dieser Sorte. Empörung macht sich in ihr breit, der Beginn von Zorn. Aber Zorn ist ungesund, also schiebt sie ihn von sich fort.
»Er sagt, wenn ich wirklich Krebs hab, soll ich mich noch mal operieren lassen, oder eine Chemotherapie machen«, sagt Zenia. »Aber ich weiß, daß ich mich wieder selbst heilen könnte, wenn...« Ihre Stimme verliert sich. »Ich glaub nicht, daß ich das hier noch trinken kann«, sagt sie und schiebt das Saftglas von sich fort. »Danke... du warst wirklich nett zu mir.« Sie greift über den Tisch und berührt Charis’ Hand. Ihre dünnen weißen Finger sehen kalt aus, aber sie sind heiß, heiß wie Kohlen. Dann schiebt sie ihren Stuhl zurück, nimmt ihren Mantel und ihre Tasche und hastet davon, fast taumelnd. Ihr Kopf ist gesenkt, die Haare fallen ihr über das Gesicht wie ein Schleier, und Charis ist sicher, daß sie weint.
Am liebsten würde Charis aufspringen und ihr nachlaufen und sie zurückholen. Der Wunsch ist so stark, daß er fast wie eine Faust in ihrem Nacken ist. Sie will Zenia wieder auf ihren Stuhl setzen und ihr beide Hände auflegen und all ihre Energie sammeln, die Energie des Lichts, und sie heilen, auf der Stelle. Aber sie weiß, daß sie das nicht kann, und deshalb rührt sie sich nicht.
Am Freitag kommt Zenia nicht in den Yoga-Kurs, und Charis macht sich Sorgen. Vielleicht ist sie zusammengebrochen, oder vielleicht hat West sie wieder geschlagen, dieses Mal mehr als einmal. Vielleicht liegt sie mit zahllosen Knochenbrüchen im Krankenhaus. Auf der Fähre zurück zur Insel sorgt sich Charis die ganze Zeit. Sie fühlt sich unzulänglich: es muß etwas gegeben haben, was sie hätte sagen oder tun können, etwas Besseres als das, was sie getan hat. Ein Glas Saft war nicht genug.
Am Abend kommt der Nebel zurück, und mit dem Nebel ein kalter Nieselregen, und Charis macht ein schönes Feuer im Herd und stellt dazu noch die Heizung an, und Billy will, daß sie früh ins Bett kommt. Sie putzt sich die Zähne in dem zugigen Badezimmer, als sie ein Klopfen an der Küchentür hört. Wahrscheinlich jemand aus Billys Gruppe, denkt sie, mit noch einem Kriegsdienstflüchtling, der über Nacht auf ihrem Wohnzimmersofa untergebracht werden muß. Sie muß zugeben, daß sie allmählich genug von ihnen hat. Allein schon, weil sie nie beim Abwaschen helfen.
Aber es ist kein Kriegsdienstflüchtling, es ist Zenia. Ihr Kopf ist in dem nassen Glasviereck der Tür eingerahmt wie ein Unterwasserfoto. Ihre Haare sind naß und hängen ihr strähnig ins Gesicht, ihre Zähne klappern, ihre Sonnenbrille ist verschwunden, und ihr Auge, inzwischen purpurn, sieht mitleiderregend aus. Ihre Lippe ist an einer Stelle aufgeplatzt. Das ist neu.
Die Tür geht wie von selbst auf, und sie steht schwankend auf der Schwelle. »Er hat mich rausgeworfen«, flüstert sie. »Ich will dir keine Umstände machen, aber... ich weiß einfach nicht, wo ich sonst hin könnte.«
Charis breitet stumm die Arme aus, und Zenia stolpert über die Schwelle und bricht in ihnen zusammen.
32
Es ist ein sonnenloser Mittag. Charis ist im Garten, beobachtet von den Hühnern, die gierig durch die Achtecke ihres Drahtzauns linsen, und von den restlichen Kohlköpfen, die sie anglotzen wie drei dumpfgrüne Kobolde, die aus dem Boden hervorlugen. Der Novembergarten sieht räudig aus: verwelkte Ringelblumen, zu einem hellen Gelb verblaßte Kapuzinerkresse, Brokkolistümpfe, grüne Tomaten, die der Frost erwischt und matschig gemacht hat, silberne Schneckenspuren, die hierhin und dorthin wandern.
Charis stört sich nicht an diesem pflanzlichen Durcheinander. Alles Enzyme, alles Dünger. Sie hebt den Spaten, stößt ihn in die Erde, tritt mit dem rechten Fuß, der in Billys
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