Die Räuberbraut
Schwarzlicht-Phosphoreszenz wabert um sie herum wie der Schimmer auf schlecht gewordenem Fleisch. Charis weiß, wann sie jemanden vor sich hat, der nicht gesund ist: diese Frau braucht bedeutend mehr als nur einen Yoga-Kurs. Ein kräftiger Vitamin-Schub und ein bißchen Sonne wären ein Anfang, aber sie würden nicht einmal ansatzweise an dem rühren, was mit ihr nicht in Ordnung ist.
Was mit ihr nicht in Ordnung ist, ist zum Teil eine Haltung der Seele: die Sonnenbrille ist die äußere Manifestation dafür, sie symbolisiert eine Barriere, die gegen die innere Vision errichtet wurde. Und so geht Charis kurz vor der Lotus-Position zu der Frau und flüstert ihr zu: »Möchtest du die Sonnenbrille nicht lieber abnehmen? Sie muß dich doch stören.«
Als Antwort zieht die Frau die Brille ein Stück herunter, und Charis ist entsetzt. Das linke Auge der Frau ist schwarz. Schwarz und blau und halb geschlossen. Das andere sieht sie an, verletzt, feucht, bittend.
»Oh«, haucht Charis. »Es tut mir leid.« Sie verkrampft sich innerlich: sie kann den Schlag auf ihrem eigenen Fleisch fühlen, ihrem eigenen Auge.
Die Frau lächelt, ein herzzerreißendes Lächeln auf diesem ausgemergelten und verwüsteten Gesicht. »Du bist Karen, nicht wahr?« flüstert sie.
Charis weiß nicht, wie sie erklären soll, daß sie es ist und doch nicht ist. Sie ist die frühere Karen. Also sagt sie »Ja« und sieht sich die Frau noch einmal genauer an, denn woher könnte sie sie kennen?
»Ich bin Zenia«, sagt die Frau. Und sie ist es.
Charis und Zenia sitzen an einem der kleinen Tische der Saftbar im hinteren Teil der Koop. »Was würdest du mir empfehlen?« sagt Zenia. »Das alles ist ja völlig neu für mich.« Und Charis, geschmeichelt durch diesen Appell an ihr Sachverständnis, bestellt ihr einen Papaya-und-Orangen-Saft mit einem Spritzer Zitrone und etwas Bierhefe. Zenia behält die Sonnenbrille auf, und Charis kann es ihr nicht verübeln. Trotzdem fällt es ihr schwer, mit jemand zu sprechen, dessen Augen sie nicht sehen kann.
Sie erinnert sich natürlich an Zenia. Alle in der McClung Hall wußten, wer Zenia war, sogar Charis, die durch ihre Universitätsjahre driftete wie durch einen Flughafen. Was die Ausbildung anging, war sie eine Durchreisende, und sie ging nach drei Jahren ab, ohne ihr Studium abgeschlossen zu haben: was immer es war, was sie damals lernen mußte, es stand nicht auf dem Stundenplan. Oder vielleicht war sie einfach nicht bereit dafür. Charis glaubt, daß, sobald man bereit ist, etwas zu lernen, der richtige Lehrer auftaucht oder vielmehr zu einem geschickt wird. Das hat bisher bei ihr immer funktioniert, mehr oder weniger, und der einzige Grund, weshalb sie im Augenblick nichts lernt, ist der, daß sie so vollkommen mit Billy beschäftigt ist.
Aber vielleicht ist Billy auch ein Lehrer, in gewisser Weise. Sie ist nur noch nicht dahintergekommen, was genau sie von ihm lernen soll. Wie man liebt, vielleicht? Wie man einen Mann liebt. Aber sie liebt ihn ja schon, also, was ist das nächste 7
Zenia nippt an ihrem Saft, die beiden Ovale ihrer Sonnenbrille auf Charis gerichtet. Charis weiß nicht so richtig, was sie zu ihr sagen soll. Sie hat Zenia an der Universität nicht wirklich gekannt, sie hat nie mit ihr gesprochen – Zenia war älter, sie war weiter als Charis, und sie war mit all diesen künstlerischen, intellektuellen Leuten zusammen –, aber Charis erinnert sich an sie, so schön und selbstbewußt, wie sie mit ihrem Freund Stew über den Campus schlenderte, und später dann auch mit der kleinen, winzigen Tony. Von Tony weiß Charis noch, daß sie ihr eines Abends folgte, als Charis das Haus verließ, um sich auf dem Rasen vor der McClung Hall unter einen Baum zu setzen. Wahrscheinlich dachte Tony, sie wandele im Schlaf; was eine gewisse Einsicht verriet, denn Charis war in der Vergangenheit häufig schlafgewandelt, aber an diesem Abend war das nicht der Fall.
Daß Tony das getan hatte, zeigte, daß sie ein gutes Herz hatte; etwas, was für Charis viel wichtiger war als Tonys akademische Brillanz, für die sie allseits bekannt war. Zenia war auch für andere Dinge bekannt gewesen – am meisten und skandalträchtigsten dafür, daß sie mit Stew zusammenlebte, ganz offen, zu einer Zeit, als man so etwas einfach nicht tat. So viel ist inzwischen anders geworden. Heute sind es die Verheirateten, die als unmoralisch gelten. Nukes werden sie genannt, für Nuklearfamilie. Radioaktiv, potentiell tödlich;
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