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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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und gutaussehenden Fremden. »Eines Tages erschien ein Freier. Er war...«
    »Sie! Sie!« plärren die Zwillinge.
    »Na dann viel Glück, Tony. Ich bin gespannt, wie du dich da rauswindest«, sagt Roz, die in der Tür steht.
    »Wir könnten das Ganze in Die Räuberbraut umbenennen«, sagt Tony. »Wär das angemessen?«
    Die Zwillinge denken eine Weile darüber nach und sagen, daß das gehen würde. Sie lieben Brautkleider und ziehen ihren Barbie-Puppen ständig welche an; und dann schmeißen sie die Bräute übers Treppengeländer oder ersäufen sie in der Badewanne.
    »Wenn wir das machen«, sagt Tony, »wen soll sie dann ermorden? Männer oder Frauen, oder vielleicht ein Sortiment aus beiden?«
    Die Zwillinge bleiben ihren Prinzipien treu, sie weichen und wanken nicht. Sie entscheiden sich für Frauen, in jeder einzelnen Rolle.
    Tony behandelte die Kinder nie von oben herab. Sie drückte sie nicht an sich, sie kniff sie nicht in die Wangen, sie erzählte ihnen nicht, wie niedlich sie seien. Sie sprach mit ihnen, als wären sie Erwachsene im Miniaturformat. Im Gegenzug akzeptierten die Zwillinge sie als eine der ihren. Sie weihten sie in Dinge ein, in ihre diversen Pläne und Verschwörungen, ihre schlimmen Einfälle – Dinge, die sie nie im Leben mit Roz geteilt hätten. Sie zogen Tonys Schuhe an und marschierten damit im Haus herum, ein Schuh für jeden Zwilling, als sie sechs oder sieben waren. Sie waren völlig vernarrt in diese Schuhe: Erwachsenenschuhe, die ihnen paßten!
    Die Räuberbraut , denkt Roz. Wieso eigentlich nicht? Sollten die Bräutigame zur Abwechslung mal eins aufs Dach bekommen. Die Räuberbraut, die in ihrem Schloß im dunklen Wald lauert, Unschuldige ausraubt, Kinder ins Verderben lockt, in ihren bösen Hexenkessel. Wie Zenia.
    Nein. Zu melodramatisch für Zenia, die schließlich nichts anderes war – nein, nichts anderes ist – als ein besseres Flittchen.
    Roz weint schon wieder. Sie beweint ihren eigenen guten Willen. Sie hat sich so viel Mühe gegeben, sie hat sich so viel Mühe gegeben, eine gute Mutter und Frau zu sein, das Beste zu tun. Aber Tony und die Zwillinge hatten recht: ganz gleich, was man tut, irgend jemand wird immer gekocht.

40
    Die Geschichte von Roz und Zenia begann an einem wunderschönen Maitag des Jahres 1983, einem Tag, an dem die Sonne schien und die Vögel sangen und Roz sich einfach großartig fühlte.
    Also gut, nicht ganz so großartig. Verquollen, um bei der Wahrheit zu bleiben: unter den Augen, unter den Armen. Aber besser, als sie sich gefühlt hatte, als sie vierzig wurde. Vierzig war wirklich deprimierend gewesen, sie war fast verzweifelt, sie hatte sich die Haare schwarz färben lassen, ein tragischer Fehler. Aber seitdem hatte sie sich mit sich selbst ausgesöhnt, und ihre Haare waren wieder kastanienbraun.
    Abgesehen davon hatte die Geschichte von Roz und Zenia in Wirklichkeit schon früher angefangen, in Zenias Kopf, bloß hatte Roz keine Ahnung davon.
    Auch nicht ganz richtig. Sie hatte eine Ahnung, aber es war die falsche Ahnung. Es war auch nicht wirklich eine Ahnung, sondern mehr ein weißer Ahnungsballon, in dem nichts geschrieben stand. Sie hatte die Ahnung, daß etwas in der Luft lag. Sie glaubte sogar zu wissen, was, wußte aber nicht wer. Sie sagte sich, daß es ihr nichts weiter ausmachte: die Zeiten waren vorbei. Solange es nichts unwiderruflich zerstörte, solange es sich nicht allzu störend auswirkte, solange sie es ohne allzu viele gebrochene Rippen überstand. Manche Männer brauchten nun mal ihre kleinen Eskapaden. Es hielt sie bei Laune. Als Form der Sucht waren sie dem Alkohol oder auch dem Golfspiel vorzuziehen, und Mitchs Dinger – sie bezeichnete sie als Dinger, um sie von Menschen zu unterscheiden – dauerten nie lange.
    Es war ein wunderschöner Maitag. Das immerhin stimmte.
    Roz wird bei Tagesanbruch wach. Das tut sie oft: wird wach und setzt sich vorsichtig auf und betrachtet den noch schlafenden Mitch. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, die sie bekommt, ihn anzusehen, ohne daß er sie dabei ertappen und seinen undurchdringlichen blauen Blick dazwischenschieben kann. Er mag es nicht, gemustert zu werden: es kommt einer Einschätzung zu nahe, was wiederum einer Beurteilung zu nahe kommt. Wenn Beurteilungen in der Gegend herumschwirren, will er derjenige sein, der sie abgibt.
    Er schläft auf dem Rücken, die Beine gespreizt, die Arme ausgebreitet, als wolle er möglichst viel Platz für sich in Anspruch nehmen. Die

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