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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Auf dem Lake Superior? – und Mitch sich über den Motor beugte und leise vor sich hinfluchte. Hat es Spaß gemacht? Nein. Aber sie wär trotzdem lieber da als hier.
    Sie dreht Mitchs Krempel den Rücken zu, damit sie ihn nicht länger ansehen muß. Zu schmerzlich. Auch von den Zwillingen sind ein paar alte Sachen hier unten, und von Larry: sein Baseball-Handschuh, seine Brettspiele – Admiral , Monopoly ; Strategie –, Tony hat sie ihm aufgedrängt, weil sie meinte, das seien die Spiele, die er mögen sollte. Die Kinderbücher, von Roz liebevoll in der Hoffnung aufbewahrt, daß sie eines Tages Enkelkinder haben und ihnen aus eben diesen Büchern vorlesen wird. Weißt du, Herzchen – das hier hat deiner Mommy gehört! Als sie noch ein kleines Mädchen war. (Oder deinem Daddy. Aber obwohl Roz die Hoffnung nicht aufgibt, fällt es ihr schwer, sich Larry als Vater vorzustellen.)
    Larry saß immer ganz ernst und still da, wenn sie ihm etwas vorlas. Seine Lieblingsbücher handelten von Zügen, die sprechen konnten und alles mögliche fertigbrachten, oder es waren lehrreiche Bücher über Zusammenarbeit in der Tierwelt. Mr. Bär hilft Mr. Biber, einen Damm zu bauen. Larry gab kaum jemals Kommentare dazu ab. Bei den Zwillingen dagegen hatte Roz die größte Mühe, zu Wort zu kommen. Sie kämpften mit ihr um die Kontrolle über die Geschichte – Mach das Ende anders, Mom! Sie sollen zurückgehen! Der Teil gefällt mir nicht! Sie wollten, daß Peter Pan endete, bevor Wendy erwachsen wurde, sie wollten, daß Matthew in Anne auf Green Gables für immer und ewig lebte.
    Sie erinnert sich an eine Phase, als sie – was waren? Vier? Fünf, sechs, sieben? Die Phase dauerte eine Weile. Sie beschlossen damals, daß alle Charaktere in allen Büchern weiblich sein mußten. Pu der Bär war weiblich, Schweinchen Schlau war weiblich, Peter Rabbit war weiblich. Wenn Roz sich einmal vertat und »er« sagte, korrigierten sie sie sofort: Sie! Siel beharrten sie. Auch ihre Stofftiere waren allesamt weiblich. Roz weiß immer noch nicht, wieso. Wenn sie danach fragte, sahen die Zwillinge sie nur mit abgrundtiefer Verachtung an. » Siehst du das denn nicht?« sagten sie.
    Sie machte sich Sorgen, ob diese Einstellung der Zwillinge eine Reaktion auf Mitch und seine häufige Abwesenheit war, ein Versuch, seine Existenz zu leugnen. Aber vielleicht war es auch nur das Fehlen von Penissen an den Stofftieren. Vielleicht war das der Grund. Jedenfalls wuchsen sie irgendwann aus dieser Phase heraus.
    Roz setzt sich auf den Kellerboden, in ihrem orangenen Morgenmantel, zum Teufel mit dem Staub und den Silberfischen und den Spinnweben. Aufs Geratewohl zieht sie Bücher aus den Regalen. Für Paula und Erin , von Tante Tony. Auf dem Einband ist der dunkle Wald, der dunkle, wölfische Wald, in dem verirrte Kinder herumwandern und Füchse lauern und alles geschehen kann; da ist der Turm des Schlosses, der hinter den knorrigen Bäumen aufragt. Die drei kleinen Schweinchen , liest sie. Das erste kleine Schweinchen baute sein Haus aus Stroh. Ihr Haus, ihr Haus, rufen die kleinen Stimmen in ihrem Kopf. Der große böse Wolf fiel durch den Schornstein, mitten in den Kessel mit kochendem Wasser, und verbrannte sich so, daß all seine Haare ausgingen. Ihre Haare! Es ist komisch, was für einen Unterschied es macht, wenn man die Pronomen ändert.
    Einmal beschlossen die Zwillinge, daß der Wolf nicht in den Kessel mit kochendem Wasser fallen sollte – statt dessen sollte eines der kleinen Schweinchen hineinfallen, weil sie so dumm gewesen waren. Aber als Roz vorschlug, daß die Schweinchen und der Wolf das kochende Wasser ganz vergessen und Freundschaft schließen sollten, waren die Zwillinge wieder einmal voller Verachtung. Irgend jemand mußte gekocht werden.
    Roz konnte sich nicht genug darüber wundern, wie blutrünstig Kinder sein konnten. Larry nicht; er mochte die brutaleren Geschichten nicht, er bekam davon Alpträume. Er mochte auch die Bücher nicht, die Tony am liebsten beisteuerte – jene authentischen Märchen in den Ausgaben mit den knorrigen Bäumen auf den Bildern, in denen kein einziges Wort verändert und all die ausgestochenen Augen und gekochten Körper und aufgehängten Leichen und rotglühenden Nägel unversehrt erhalten waren. Tony sagte, auf diese Weise seien sie lebensechter.
    »Der Räuberbräutigam« , liest Tony, vor langer Zeit, einen Zwilling an jeder Seite. Die schöne Maid, die Suche nach einem Ehemann, die Ankunft des reichen

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