Die Räuberbraut
Vater, der große Unbekannte. Groß für andere, unbekannt für sie. Oder sagen wir einfach – denkt Roz, in ihrem orangefarbenen Morgenmantel, im Keller, während sie den Rest des Nanaimo-Riegels verputzt und gierig den Teller ableckt –, daß er neun Leben hatte und sie selbst nur drei oder vier davon kannte. Man konnte nie wissen, wann jemand aus einem der früheren Leben ihres Vaters auftauchen würde.
Es gab eine Zeit, in der Roz nicht Roz war. Statt dessen hieß sie Rosalind, und mit zweitem Vornamen Agnes, nach der Heiligen Agnes und nach ihrer Mutter, aber das erzählte sie den Mädchen in der Schule nicht, weil sie nicht Aggie genannt werden wollte, so wie ihre Mutter hinter ihrem Rücken von den Mietern Aggie genannt wurde. Keiner von ihnen hätte es gewagt, sie offen heraus Aggie zu nennen. Dafür war sie viel zu respektabel. Für die Mieter war sie Mrs. Greenwood.
Folglich war Roz Rosalind Greenwood und nicht Roz Grunwald, und sie lebte mit ihrer Mutter im Logierhaus ihrer Mutter in der Huron Street. Das Haus war hoch und schmal und aus rotem Backstein und hatte nach vorne heraus eine durchhängende Veranda, die Roz’ Vater in Ordnung bringen würde, vielleicht, irgendwann. Ihr Vater war nicht da. Er war, seit Roz sich erinnern konnte, nicht da. Der Grund dafür war der Krieg.
Roz konnte sich an den Krieg erinnern, wenn auch nicht sehr gut. Sie erinnerte sich an die Luftschutzsirenen, aus der Zeit, als sie noch nicht zur Schule ging, weil ihre Mutter sie zwang, unter das Bett zu kriechen, und unter dem Bett war eine Spinne. Ihre Mutter hatte Schmalz und Konservendosen gesammelt, obwohl Roz sich nicht vorstellen konnte, was die Soldaten mit diesen Sachen machen sollten, und später, in der Schule, spendeten alle fünf Cents für das Rote Kreuz, wegen der vielen Waisenkinder. Die Waisenkinder standen auf Schutthalden und hatten zerlumpte Kleider und riesige, ernste Augen, bittende Augen, vorwurfsvolle Augen, weil ihre Eltern von Bomben getötet worden waren. Schwester Mary Paul zeigte ihnen Fotos von ihnen, in der ersten Klasse, und Roz weinte, weil sie ihr so leid taten, und wurde ermahnt, sich nicht so anzustellen, und bekam ihr Mittagessen nicht herunter, und wurde ermahnt, es aufzuessen, wegen der Waisenkinder, und bat um eine zweite Portion, denn wenn es den Waisenkindern half, wenn sie ihr Mittagessen aufaß, mußte es ihnen noch mehr helfen, wenn sie eine zweite Portion aß, auch wenn sie sich nicht genau vorstellen konnte, wie das vor sich gehen sollte. Vielleicht hatte Gott Methoden, solche Dinge zu regeln. Vielleicht wurde das solide, sichtbare Essen, das Roz aß, in unsichtbare, geistige Nahrung verwandelt und durch die Luft geflogen, geradewegs in die Waisenkinder hinein, wie eine Art Heilige Kommunion, wo die Hostie auch aussah wie eine Backoblate, in Wirklichkeit aber Jesus war. Wie auch immer, Roz war nur allzu bereit, ihr Teil dazu beizutragen.
Irgendwo da draußen, hinter den Schutthalden, hinter den dunklen Baumgruppen in der Ferne nicht zu sehen, war ihr Vater. Sie hoffte, daß ein Teil des Essens, das sie aß, an den Waisenkindern vorbei und in ihren Vater gelangen würde. So dachte Roz, als sie in der ersten Klasse war.
Aber der Krieg war vorbei, und wo war Roz’ Vater jetzt? »Unterwegs«, sagte ihre Mutter. Am Küchentisch stand immer ein dritter Stuhl für ihn bereit. Roz konnte es kaum erwarten.Weil Roz’ Vater nicht da war, mußte Roz’ Mutter das Logierhaus ganz alleine führen. Es ging über ihre Kräfte, wie sie Roz sagte, fast jeden Tag. Roz konnte es sehen: ihre Mutter sah ausgemergelt aus, so als wäre alles Weiche von ihr weggekratzt worden, so als kämen ihre Knochen immer dichter an die Oberfläche. Sie hatte ein langes Gesicht, braune, von grauen Strähnen durchzogene Haare, die sie straff nach hinten kämmte und feststeckte, und eine Schürze. Sie redete nicht viel, und wenn sie etwas sagte, dann in kurzen, kompakten Wortgruppen. »Gesagt, getan«, sagte sie zum Beispiel. »Frisch gewagt ist halb gewonnen. Blut ist dicker als Wasser. Schön ist, wer schön handelt. Geld wächst nicht auf Bäumen. Der Lauscher an der Wand hört seine eigne Schand.« Sie sagte, Roz sei eine Plappertasche, deren Mundwerk keinen Augenblick stillstehe.
Sie hatte knochige Hände mit geschwollenen Knöcheln, die vom vielen Waschen rot waren. »Sieh dir meine Hände an«, sagte sie, als würden diese Hände etwas beweisen. Im allgemeinen bewiesen sie, daß Roz mehr helfen
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