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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Tausende von heiratsfähigen jungen Frauen auf der Welt gibt, Millionen, jede Minute werden es mehr, und ganz gleich, was er macht, er wird es nie schaffen, in sie alle einzudringen, weil die Kunst lang und das Leben kurz ist, und der Tod wartet.
    Und ja, sie sind ziemlich gut zusammen. Manchmal. Immer noch. Und so strahlt sie ihn an und erwidert den Druck seiner Hand und denkt, daß sie so glücklich sind, wie man es sich nur wünschen kann. Das sind sie auch. In Anbetracht der Tatsache, daß sie sind, wer sie sind, sind sie so glücklich, wie man es sich nur wünschen kann. Obwohl sie, wenn sie beide andere Menschen gewesen wären, vielleicht glücklicher gewesen wären.
     
    Ein Mädchen, ein hübsches Mädchen, ein hübsches Mädchen mit einem tief ausgeschnittenen Pullover, erscheint mit einer Platte mit toten Fischen, aus denen Mitch seine Auswahl trifft. Er nimmt den Fang des Tages, Roz die Pasta in Sepia, weil sie so etwas noch nie gegessen hat und es so bizarr klingt. Spaghetti in Tinte. Als Vorspeise nehmen sie einen Salat, bei dem Roz es für angemessen hält zu fragen, vorsichtig zu fragen, ob es etwas Bestimmtes gibt, worüber Mitch mit ihr reden möchte. Bei früheren Mittagessen gab es meistens ein bestimmtes Thema, meistens ein geschäftliches, ein Thema, bei dem es darum ging, Mitch im Vorstand des Magazins WiseWomanWorld, dessen Vorsitzender er ist, mehr Macht einzuräumen.
    Aber Mitch sagt nein, er hatte nur das Gefühl, daß er sie in letzter Zeit viel zu wenig gesehen hat, ohne die Kinder, heißt das, und Roz, die von solchen Krümeln nie genug kriegen kann, leckt sie gierig auf. Sie wird vergeben, sie wird vergessen. Also gut, vergeben, denn was man vergessen kann, unterliegt nicht der eigenen Kontrolle. Vielleicht hatte Mitch all die Jahre nur eine Midlife-Crisis, obwohl achtundzwanzig ein bißchen jung war, um damit anzufangen.
    Der Salat kommt, auf einer großen Platte, die von einer weiteren langhaarigen, weitausgeschnittenen Schönheit gebracht wird, und Roz fragt sich, ob die Kellnerinnen danach ausgewählt werden, ob sie zu den Bildern an den Wänden passen. Umgeben von so vielen Brustwarzen hat sie das Gefühl, von einer Myriade außerirdischer Augen beobachtet zu werden. Rosa Augen. Vor ihrem inneren Auge spielt sich eine kurze Szene ab, in der eine flachbrüstige Frau das Restaurant wegen Diskriminierung verklagt, weil es sich geweigert hat, sie anzustellen. Noch besser, ein flachbrüstiger Mann. Da wäre sie gerne eine stille Zuhörerin.
    Die Kellnerin beugt sich vor, wobei der tiefe Spalt zwischen ihren Brüsten sichtbar wird, legt ihnen den Salat vor und bleibt lächelnd stehen, während Roz einen Bissen probiert. »Wundervoll«, sagt Roz und meint den Salat. »Absolut«, sagt Mitch und lächelt zu der Kellnerin hinauf. O Gott, denkt Roz. Er fängt an, mit Kellnerinnen zu flirten. Was wird sie bloß von ihm denken? Schmieriger alter Schleimer? Und wie lange noch, bis er wirklich ein schmieriger alter Schleimer ist?
    Mitch hat schon immer mit den Kellnerinnen geflirtet, auf seine zurückhaltende Art. Aber das ist, als würde man sagen, daß eine neunzigjährige Cancan-Tänzerin schon immer den Cancan getanzt hat. Wann weiß man, wann man aufhören muß?
     
    Nach dem Salat kommt das Hauptgericht, gebracht von noch einem anderen Mädchen. Einer anderen Frau; sie ist etwas älter, aber mit einer betörenden Wolke aus dunklen Haaren und mit erstaunlichen Titten und einer Taille, für die Roz einen Mord begehen würde. Roz sieht sie und weiß, daß sie sie schon einmal gesehen hat. Vor langer Zeit, in einem früheren Leben. »Zenia!« ruft sie, bevor sie es verhindern kann.
    »Wie bitte?« sagt die Frau. Dann sieht auch sie Roz an, und lächelt, und sagt: »Roz? Roz Grunwald? Bist du es wirklich? Du siehst überhaupt nicht aus wie auf den Fotos.«
    Roz hat den überwältigenden Drang, es abzustreiten. Sie hätte überhaupt nichts sagen sollen, sie hätte ihre Handtasche fallen lassen und ihr unter den Tisch nachtauchen sollen, alles, um nur ja nicht in Zenias Visier zu geraten. Wer brauchte schon den bösen Blick?
    Aber der Schock, Zenia hier zu sehen, als Kellnerin – als Bedienstete – in den Nereiden, hat all das in Vergessenheit geraten lassen, und: »Was zum Teufel machst du hier?« sprudelt Roz heraus.
    »Recherche«, sagt Zenia. »Ich bin Journalistin. Ich hab jahrelang freiberuflich gearbeitet, hauptsächlich in England. Aber ich wollte zurückkommen, einfach nur, um zu sehen

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