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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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– um zu sehen, wie’s hier so läuft. Also hab ich mir den Auftrag für einen Artikel über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz unter den Nagel gerissen.«
    Zenia muß sich verändert haben, denkt Roz, wenn sie über solche Sachen schreibt. Sie sieht sogar anders aus. Zuerst kann Roz es nicht richtig einordnen, aber dann sieht sie es. Die Titten. Und die Nase. Erstere sind größer geworden, letztere kleiner. Zenias Nase sah früher mehr wie die von Roz aus. »Wirklich?« sagt Roz, die ein professionelles Interesse hat. »Für wen?«
    »Für Saturday Night. Größtenteils handelt es sich um Interviews, aber ich hab mir gedacht, es wär vielleicht eine gute Idee, mich selbst ein bißchen umzusehen.« Sie lächelt, mehr für Roz als für Mitch. »Letzte Woche war ich in einer Fabrik, und die Woche davor in einem Krankenhaus. Du würdest nicht glauben, wie viele Krankenschwestern von Patienten attackiert werden! Und ich meine nicht nur Anfassen – sie werfen mit Sachen, mit Bettpfannen und so weiter, es ist ein richtiges Berufsrisiko. Aber natürlich durfte ich keine richtige Krankenschwesternarbeit machen. Das hier ist konkreter.«
    Mitch fängt an, ein eingeschnapptes Gesicht zu machen, weil er sich übergangen fühlt, und Roz stellt Zenia vor. Sie will nicht »eine alte Freundin« sagen, also sagt sie statt dessen: »Wir haben zusammen studiert.« Nicht daß wir je die dicksten Freundinnen waren, denkt Roz. Sie hat Zenia damals kaum gekannt, außer als Gegenstand des Klatsches. Greulichen, sensationellen Klatsches.
    Mitch tut nichts, um Roz bei dieser Unterhaltung auszuhelfen. Er murmelt einfach nur was vor sich hin und starrt auf seinen Teller. Offenbar fühlt er sich gestört. »Und, wie sind denn die Berufsrisiken in diesem Laden hier?« sagt Roz, um seine Unhöflichkeit zu überspielen. »Hat schon jemand Zuckerpüppchen zu dir gesagt und dich in den Hintern gekniffen?«
    Zenia lacht. »Immer noch dieselbe alte Roz. Sie hat immer Leben in die Parties gebracht«, sagt sie zu Mitch.
    Während Roz noch überlegt, welche Parties sie je besucht hat, auf denen Zenia auch war – keine, soweit sie sich erinnern kann, aber sie hat damals mehr getrunken, oder mehr auf einmal, und vielleicht hat sie es einfach vergessen –, legt Zenia ihr die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme verändert sich, wird leiser, feierlicher. »Weißt du, Roz«, sagt sie, »ich hab dir schon immer was erzählen wollen, aber ich konnte nie, früher.«
    »Was?« fragt Roz.
    »Dein Vater«, sagt Zenia.
    »O Gott«, sagt Roz, die irgendeinen Schwindel fürchtet, von dem sie noch nichts weiß, irgendeinen vergrabenen Skandal. Vielleicht ist Zenia ihre verlorengeglaubte Halbschwester, verflucht sei der Gedanke. Ihr Vater war ein gerissener alter Fuchs. »Was hat er getan?«
    »Er hat mir das Leben gerettet«, sagt Zenia. »Im Krieg.«
    »Dir das Leben gerettet?« sagt Roz. »Im Krieg?« Einen Augenblick -  war Zenia da überhaupt schon geboren, im Krieg? Roz zögert, will das nicht glauben. Aber das hier ist genau das, wonach sie sich immer gesehnt hat – ein Augenzeuge, jemand, der beteiligt, aber unparteiisch war, der ihr versichern kann, daß ihr Vater tatsächlich war, was er den Gerüchten zufolge war: ein Held. Oder ein Halb-Held; jedenfalls mehr als ein zwielichtiger Schieber. Sie hat Erzählungen von anderen gehört, ihren Onkeln beispielsweise, aber die beiden waren kaum zuverlässig; und deshalb war sie nie wirklich sicher, nicht wirklich.
    Und jetzt endlich ist da ein Bote, der Neuigkeiten aus jenem fernen Land bringt, dem Land der Vergangenheit, dem Land des Krieges. Aber warum muß dieser Bote ausgerechnet Zenia sein? Es ärgert Roz, daß Zenia diese Dinge weiß, sie selbst jedoch nicht. Es ist, als hätte ihr Vater in seinem Testament einer völlig Fremden, einer Herumtreiberin, die er in irgendeiner Kneipe kennengelernt hat, etwas hinterlassen, einen Schatz, seiner eigenen Tochter aber nicht. Wußte er denn nicht, wie sehr sie so was wissen wollte?
    Vielleicht steckt nichts dahinter. Andererseits, wenn doch? Es lohnt sich zumindest, die Geschichte anzuhören. Es lohnt das Risiko.
    »Es ist eine lange Geschichte«, sagt Zenia. »Ich würde sie dir gerne einmal erzählen, wenn du Zeit hast. Wenn du sie überhaupt hören willst.« Sie lächelt, nickt Mitch zu und entfernt sich. Sie bewegt sich selbstbewußt, nonchalant, als wisse sie, daß sie gerade das eine Angebot gemacht hat, dem Roz unmöglich widerstehen kann.

42
    Roz’

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