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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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arbeitete tagsüber in einem Schuhgeschäft und ließ abends in ihrem Zimmer leise das Radio laufen – Tanzmusik – und las Unmengen von Taschenbuchkrimis. »Es geht doch nichts über einen hübschen Mord«, sagte sie zu Roz. Sie schien diese Bücher tröstlich zu finden. Sie las sie im Bett, und auch in der Badewanne; manchmal fand Roz eines davon, aufgeschlagen und mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Seiten ein bißchen feucht. Sie trug es für Miss Hines nach oben, wobei sie sich den Einband ansah: Herrenhäuser mit dunklen Sturmwolken und Blitzen, Männer mit Filzhüten, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten, Tote, aus denen Messer herausragten, junge, vollbusige Frauen in Nachthemden, alles in seltsamen Farben gehalten, dunkel und unheimlich, und das Blut breitete sich glänzend und dick wie Sirup als Pfütze über den Boden aus.
    Wenn Miss Hines nicht in ihrem Zimmer war, sah Roz sich ihren Kleiderschrank an, aber Miss Hines hatte nicht sehr viele Kleider, und die, die sie hatte, waren marineblau und braun und grau. Miss Hines war katholisch, hatte aber nur ein einziges Heiligenbild: die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß, und daneben stand Johannes der Täufer, der Häute und Felle trug, weil er später in der Wüste leben würde. Die Jungfrau Maria sah auf Bildern immer traurig aus, außer, wenn Jesus noch ein Baby war. Babys waren das einzige, was sie aufheiterte. Jesus war, genau wie Roz, ein Einzelkind; es wäre sicher nett für ihn gewesen, eine Schwester zu haben. Roz beabsichtigte, von jeder Sorte welche zu haben, wenn sie groß war.
    Im Erdgeschoß gab es ein Zimmer, das früher das Eßzimmer gewesen war. Hier lebte Mr. Carruthers. Er war ein alter Mann mit einer Pension; er war im Krieg gewesen, aber in einem anderen. Er war am Bein verwundet worden, deshalb ging er am Stock, und er hatte immer noch einen Teil der Kugeln in sich. »Siehst du dieses Bein?« sagte er zu Roz. »Voller Granatsplitter. Falls es mal kein Eisen mehr gibt, können sie mein Bein als Bergwerk nehmen.« Es war der einzige Witz, den er je erzählte. Er las viel Zeitung. Wenn er ausging, ging er zum Veteranenverein, um seine Kameraden zu besuchen. Manchmal kam er mit vollen Segeln zurück, wie Roz’ Mutter es ausdrückte. Sie konnte ihn nicht daran hindern, aber sie konnte ihn daran hindern, in seinem Zimmer zu trinken.
    Die Mieter durften in ihren Zimmern nichts essen und nichts trinken, außer Wasser. Sie durften keine Kochplatten haben, weil sie nur das Haus in Brand stecken würden. Das andere, was sie nicht durften, war rauchen. Mr. Carruthers tat es trotzdem. Er machte das Fenster auf und blies den Rauch nach draußen und spülte die Kippen die Toilette hinunter. Roz wußte das, sagte aber nichts. Sie hatte ein bißchen Angst vor ihm, vor seinem aufgedunsenen Gesicht und seinem struppigen grauen Schnurrbart und seinen schweren Schuhen und seinem nach Bier riechenden Atem, aber abgesehen davon wollte sie auch nichts sagen, weil das gepetzt gewesen wäre, und an der Schule wurden Mädchen, die petzten, von allen verachtet.
    War Mr. Carruthers ein Protestant oder ein Katholik? Roz wußte es nicht. Roz’ Mutter sagte, daß die Religion bei einem Mann keine so große Rolle spielte. Außer natürlich, er war Priester. Dann spielte sie schon eine Rolle.
     
    Miss Hines und Mr. Carruthers waren schon so lange da, wie Roz denken konnte, aber die dritte Mieterin, Mrs. Morley, war erst später gekommen. Sie hatte das zweite Zimmer im ersten Stock, neben dem, in dem Roz’ Mutter schlief. Mrs. Morley sagte, sie sei dreißig. Sie hatte tief hängende Brüste und ein vor Puder-Make-up braunes Gesicht und schwarze Wimpern und rote Haare. Sie arbeitete in der Kosmetikabteilung von Eaton’s und verkaufte Elizabeth-Arden-Produkte und lackierte sich die Fingernägel und war geschieden. Die Nonnen sagten, daß Scheidung Sünde war.
    Roz war von Mrs. Morley fasziniert. Sie ließ sich in Mrs. Morleys Zimmer locken, wo Mrs. Morley ihr Proben von Parfüm und Bluegrass-Handlotion schenkte und ihr zeigte, wie man sich die Haare aufdrehte und ihr erzählte, was für ein Stinktier Mr. Morley gewesen war. »Süße, er hat mich belogen und betrogen«, sagte sie, »als gäbe es kein Morgen mehr.« Sie sagte »Liebchen« und »Süße« zu Roz, was Roz’ Mutter nie tat. »Ich wär froh, wenn ich auch ein kleines Mädchen wie dich hätte«, sagte sie, und Roz strahlte vor Freude.
    Mrs. Morley hatte einen silbernen

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