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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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mußte. »Deine Mutter ist eine Heilige«, sagte die kleine Miss Hines, die im zweiten Stock wohnte. Aber wenn Roz’ Mutter eine Heilige war, dann hatte Roz keine besonders große Lust, auch eine zu werden.
    Wenn Roz’ Vater zurückkam, würde er ihrer Mutter helfen. Wenn Roz brav war, würde er schneller zurückkommen, weil Gott dann mit ihr zufrieden wäre und ihre Gebete erfüllen würde. Aber manchmal konnte sie sich nicht immer daran erinnern. Wenn das geschah, wenn sie eine Sünde beging, bekam sie schreckliche Angst; sie sah ihren Vater dann in einem Boot, wie er den Ozean überquerte, und eine große Welle schlug über ihm zusammen, oder er wurde von einem Blitz getroffen, was Gottes Methode war, sie zu strafen. Dann mußte sie ganz besonders eifrig beten, bis zum Sonntag, wo sie zur Beichte gehen konnte. Sie betete auf den Knien, neben ihrem Bett, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wenn es eine schlimme Sünde gewesen war, putzte sie zusätzlich auch das Klo, auch wenn es gerade erst gemacht worden war. Gott liebte saubere Klos.
    Roz fragte sich, wie ihr Vater sein würde. Sie hatte keine wirkliche Erinnerung an ihn, und das Foto, das auf dem dunklen, polierten, verbotenen Schreibtisch ihrer Mutter stand, zeigte einfach nur einen Mann, einen großen Mann in einer schwarzen Jacke, dessen Gesicht Roz kaum erkennen konnte, weil es im Schatten lag. Dieses Foto ließ nichts von dem Zauber erkennen, den Roz ihrem Vater zuschrieb. Er war wichtig, er tat wichtige, geheime Dinge, über die man nicht sprechen durfte. Es waren Kriegsdinge, obwohl der Krieg vorbei war.
    »Er riskiert Kopf und Kragen«, sagte ihre Mutter.
    »Wie?« sagte Roz.
    »Iß deinen Teller leer«, sagte ihre Mutter. »In Europa hungern die Kinder.«
    Was er tat, war so wichtig, daß er nicht viel Zeit hatte, Briefe zu schreiben, obwohl in gewissen Abständen Briefe eintrafen, aus fernen Ländern: Frankreich, Spanien, der Schweiz, Argentinien. Ihre Mutter las diese Briefe für sich allein, und ihr Gesicht überzog sich dabei mit einer seltsamen, fleckigen Röte. Roz sammelte die Briefmarken.
     
    Was Roz’ Mutter hauptsächlich tat, war putzen. »Das hier ist ein sauberes, anständiges Haus«, sagte sie, wenn sie die Mieter anraunzte, weil sie etwas falsch gemacht hatten, beispielsweise den Flur dreckig gemacht oder vergessen hatten, den Schmutzrand in der Badewanne wegzuwischen. Sie bürstete den Läufer auf der Treppe und staubsaugte den Teppich im ersten Stock, sie schrubbte das Linoleum in der Eingangshalle und wachste es ein und machte dasselbe mit dem Küchenboden. Sie putzte die Badezimmerarmaturen mit Ajax und die Toiletten mit Sani-Flush und die Fenster mit Windex, und wusch die Spitzenvorhänge mit Sunlichtseife, vorsichtig, von Hand, auf einem Waschbrett, obwohl sie die Laken und die Handtücher in der Wring- und Waschmaschine wusch, die im Anbau hinter der Küche stand; es gab immer eine Menge Laken und Handtücher, wegen der Mieter. Sie wischte zweimal die Woche Staub und kippte Abflußreiniger in alle Abflüsse, weil die Haare der Mieter sie anderenfalls verstopften. Diese Haare waren ihr ein ständiger Dorn im Auge; sie tat, als würden die Mieter sie sich büschelweise ausreißen und absichtlich in die Abflüsse stopfen. Manchmal piekste sie eine Häkelnadel in den Abfluß des Waschbeckens im ersten Stock und zerrte einen Klumpen glitschiger, seifiger, stinkender Haare heraus. »Siehst du«, sagte sie dann zu Roz. »Voll von Bakterien.«
    Sie erwartete, daß Roz ihr bei all diesem endlosen Saubermachen half. »Ich arbeite mir die Finger wund«, sagte sie. »Für dich. Sieh dir meine Hände an.« Und es hatte überhaupt keinen Zweck, daß Roz sagte, daß es ihr egal war, ob die Toilette im ersten Stock sauber war oder nicht, weil sie sie sowieso nie benutzte. Roz’ Mutter wollte, daß das Haus einen sauberen und anständigen Eindruck machte, wenn ihr Vater zurückkam, und da sie nicht wußten, wann das sein würde, mußte es die ganze Zeit sauber und anständig sein.
     
    Es gab drei Mieter. Roz’ Mutter hatte das vordere Zimmer im ersten Stock, und Roz eines der beiden Zimmer im zweiten Stock – die Mansarden, wie ihre Mutter sagte. In der zweiten Mansarde lebte die kleine Miss Hines mit ihren Wollpantoffeln und ihrem karierten Bademantel, den sie immer trug, wenn sie hinunterging, um ein Bad zu nehmen, weil das Badezimmer unter dem Dach nur ein Waschbecken und eine Toilette hatte. Miss Hines war nicht jung. Sie

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