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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Frau, sondern in eine andere Kategorie, die nicht deutlich definiert ist. In die Kategorie geschlechtsloser Gnom.
     
    Roz ruft Tony in ihrem Büro in der historischen Fakultät an. »Du wirst nicht glauben, was passiert ist«, sagt sie.
    Eine Pause, in der Tony zu erraten versucht, was sie angeblich nicht glauben wird. »Wahrscheinlich nicht«, sagt sie.
    »Zenia ist wieder da«, sagt Roz.
    Eine weitere Pause. »Hast du mit ihr gesprochen?« sagt Tony.
    »Ich bin ihr zufällig in einem Restaurant begegnet«, sagt Roz.
    »Man begegnet Zenia nicht zufällig«, sagt Tony. »Wenn du meinen Rat hören willst: halt die Augen offen. Was hat sie vor? Irgend etwas muß sie Vorhaben.«
    »Ich glaub, sie hat sich verändert«, sagt Roz. »Sie ist anders als früher.«
    »Ein Leopard kann seine Flecken nicht verändern«, sagt Tony. »Wie anders?«
    »Tony, du bist immer so pessimistisch!« sagt Roz. »Sie wirkte, na ja, netter. Menschlicher. Sie ist jetzt freiberufliche Journalistin, sie schreibt über Frauenthemen. Außerdem –« Roz senkt die Stimme – »sind ihre Titten größer.«
    »Ich glaub nicht, daß Brüste wachsen können«, sagt Tony, die sich früher einmal selbst mit diesem Thema befaßt hat, voller Skepsis.
    »Höchstwahrscheinlich sind sie das auch nicht«, sagt Roz. »Die machen jetzt jede Menge künstliche. Ich wette, sie hat sie sich einpflanzen lassen.«
    »Das würde mich nicht überraschen«, sagt Tony. »Sie erhöht ihre Schlagkraft. Aber ob Titten oder keine Titten, halt die Augen offen.«
    »Ich hab sie nur auf einen Drink eingeladen«, sagt Roz. »Ich mußte, wirklich. Sie hat meinen Vater gekannt, im Krieg.« Aber natürlich kann Tony die volle Tragweite dieser Tatsache nicht verstehen.
     
    Niemand hätte also später sagen können, daß Roz nicht gewarnt war. Niemand sagte es. Es sagte auch niemand, daß sie gewarnt worden war, weil Tony nicht zu diesen unerträglichen Geschieht-dir-recht-Freundinnen gehörte und Roz nie an die Vorsichtsmaßnahmen erinnerte, zu denen sie ihr geraten hatte. Das tat Roz selbst. Du bist mit offenen Augen in dein Unglück marschiert, beschimpfte sie sich selbst. Schwachkopf! Was hat dich bloß getrieben?
    Sie wußte, was es war. Es war die Hoffart, die tödlichste der sieben Todsünden; die Sünde Luzifers, die Quelle aller anderen. Hochmut, falsch verstandene Tollkühnheit, Bravour. Sie hielt sich für eine Art Löwenbändigerin, eine Art Stierkämpferin; sie dachte, sie könne siegen, wo ihre beiden Freundinnen versagt hatten. Wieso auch nicht? Sie wußte mehr, als die beiden gewußt hatten, weil sie ihre Geschichten kannte. Aus Schaden wird man klug. Sie war zu selbstsicher gewesen. Sie hatte sich für vorsichtig und geschickt gehalten. Sie hatte geglaubt, Zenia gewachsen zu sein. Genau dasselbe hatte sie auch einmal über Mitch gedacht, wenn sie es sich recht überlegte.
    Nicht, daß sie damals das Gefühl gehabt hätte, daß die Hoffart in ihr arbeitete. Überhaupt nicht. Das war ja das Schlimme an diesen Sünden – sie konnten sich verkleiden, sie konnten sich so verstellen, daß man sie kaum noch erkannte. Sie hielt sich nicht für stolz, sondern nur für höflich und zuvorkommend. Zenia wollte sich für etwas bedanken, was Roz’ Vater getan hatte, und es wäre sehr unrecht von Roz gewesen, ihr diese Chance zu verweigern.
    Es war noch eine andere Art von Stolz im Spiel. Sie wollte stolz auf ihren Vater sein. Ihren von Makeln behafteten Vater, ihren durchtriebenen Vater, ihren Vater, den Organisator, ihren Vater, den Ganoven. Sie hatte Stückchen seiner Geschichte erzählt, wenn sie für Zeitschriften interviewt wurde, Roz, die geschäftliche Koryphäe, wie haben Sie angefangen, wie halten Sie es mit der Hausarbeit, welcher Hausarbeit, haha, und beim Erzählen wußte sie natürlich, daß sie ihn aufpolierte, daß sie ihn im hellsten Licht erscheinen ließ, daß sie posthume Orden an seine Brust heftete, aber wer wußte denn, ob das Ganze nicht nur eine Art Märchen war, eine ausgeklügelte Erfindung der Onkel? Mit ihrem Vater hatte sie nie darüber gesprochen, über diesen schattigen Teil seines Lebens. Sie wollte einen Augenzeugen, jemand anderen als ihre voreingenommenen Onkel, jemanden, der ihr sagte, was für ein Held er gewesen war. Sie war mehr als nur ein bißchen nervös, wenn sie daran dachte, was sie vielleicht herausfinden würde.

46
    Als Zenia auf den vereinbarten Drink vorbeikommt, endlich – sie hat nichts überstürzt –, ist es Freitag und

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