Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
hölzernem Geländer und einem Mädchenzimmer und einem Balkon, der auf den Hof hinausging, damit man die Wäsche aufhängen konnte. Ich weiß das so genau, weil ich es gesehen habe – ich bin hingefahren. In den späten siebziger Jahren, ich hatte einen Auftrag in Berlin – ich sollte über das Berliner Nachtleben schreiben, für ein Reisemagazin, du weißt schon, scharfe Varietés, heiße Stripteaselokale, Telefone auf den Tischen. Also hab ich mir einen Nachmittag freigenommen und das Haus gesucht. Ich kannte die Adresse, aus alten Papieren meiner Tante. Die Gebäude drumherum waren alle neu, sie waren nach der Bombardierung wieder aufgebaut worden, die ganze Gegend war praktisch dem Erdboden gleich gewesen; es war erstaunlich, aber dieses Haus stand noch.
    Ich läutete überall, und irgend jemand öffnete, und ich ging hinein und die Treppe hinauf, wie meine Eltern es Hunderte von Malen getan haben müssen. Ich berührte dasselbe Treppengeländer, ich bog um dieselben Ecken. Ich klopfte an die Tür, und als sie geöffnet wurde, sagte ich, Verwandte von mir hätten früher hier gelebt, und dürfte ich mich vielleicht ein bißchen umsehen – ich spreche ein wenig deutsch, ich hab es von meiner Tante gelernt, aber mein Akzent ist ein bißchen altmodisch –,und die Leute ließen mich rein. Es war ein junges Paar, mit einem Baby, sie waren sehr nett, aber ich konnte nicht lange bleiben. Ich konnte es einfach nicht aushalten, die Zimmer, das Licht, das durch die Fenster fiel – es waren dieselben Zimmer, dasselbe Licht. Ich glaub, in diesem Augenblick wurden meine Eltern zum ersten Mal real für mich. Alles, einfach alles, wurde plötzlich real. Bis dahin war es nur eine böse Geschichte gewesen.«
    Zenia verstummt. Das tun die Leute oft, wenn sie zum schweren Teil kommen, wie Roz aufgefallen ist. »Eine böse Geschichte«, hilft sie Zenia weiter.
    »Ja«, sagt Zenia. »Es war schon Krieg. Alles war knapp. Meine Tante war nie verheiratet gewesen, nach dem ersten Krieg fehlten so viele Männer, daß viele Frauen einfach nicht heiraten konnten, und von daher betrachtete sie unsere Familie auch als ihre Familie, sie hat viel für uns getan. Uns ein bißchen bemuttert – so hat sie es ausgedrückt. An diesem Tag jedenfalls ging meine Tante zur Wohnung meiner Eltern; sie wollte ihnen ein Brot bringen, das sie selbst gebacken hatte. Sie ging wie üblich die Treppe hinauf - es gab einen Aufzug, einen dieser Eisenkäfige, ich hab ihn gesehen aber er war außer Betrieb. Als sie gerade klopfen wollte, ging die Tür auf der anderen Seite des Treppenabsatzes auf, und die Frau, die dort lebte – meine Tante kannte sie nur vom Sehen –, diese Frau kam raus und packte sie am Arm und zog sie in ihre Wohnung. ›Gehn Sie nicht da rein, gehn Sie nicht da rein‹, sagte sie. ›Sie haben sie abgeholt.‹
    ›Wo hat man sie hingebracht?‹ fragte meine Tante. Sie fragte nicht, wer sie abgeholt hatte, das brauchte sie nicht.
    ›Versuchen Sie nicht, es herauszubekommen‹, sagte die Frau. ›Bloß nicht.‹ Sie hatte mich bei sich, in ihrer Wohnung, weil meine Mutter gesehen hatte, wie sie kamen, sie hatte aus dem Fenster gesehen, sie hatte sie die Straße heraufkommen sehen, und als sie das Haus betraten und die Treppe heraufkamen, wußte sie, wo sie hinwollten, und sie war durch die Hintertür gelaufen, die Mädchentür, und über den hinteren Balkon, mich in den Armen, in eine Decke eingewickelt – die Balkone nach hinten heraus gingen ineinander über –, und sie hatte an die Küchentür dieser Frau gehämmert, und die Frau hatte mich genommen. Es ging alles so schnell, daß sie kaum wußte, was sie tat, und wenn sie Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, hätte sie so was Gefährliches wahrscheinlich nie im Leben getan. Sie war eine ganz normale Frau, gesetzestreu und alles, aber wenn einem jemand ein Baby in den Arm drückt, kann man wahrscheinlich nicht einfach zur Seite treten und es auf den Boden fallen lassen.
    Ich war die einzige, die gerettet wurde, die anderen wurden alle weggebracht. Ich hatte einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Ich war viel jünger, ein Nachzügler. Ich hab ein Foto von ihnen; meine Tante hat es mit hierher gebracht. Hier -« Zenia öffnet ihre Handtasche, holt ihre Brieftasche heraus und entnimmt ihr einen Schnappschuß. Es ist ein quadratisches Foto mit einem breiten weißen Rand, die Gestalten darauf sind winzig und verblaßt: eine Familiengruppe, Vater, Mutter, zwei kleine Kinder und

Weitere Kostenlose Bücher