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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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übersprungen haben. Jedenfalls wußte sie, daß sie mich fortbringen mußte, daß sie mich aus dem Land bringen mußte. Wenn sie erwischt worden wäre, hätte man sie des Verrats angeklagt, weil sie mir geholfen hatte. Schöner Verrat! Gott, ich war sechs Monate alt!«
    Roz weiß nicht, was sie sagen soll. »Du Ärmste«, was sie sonst immer murmelt, wenn ihre Freundinnen ihr Geschichten von Krisen am Arbeitsplatz oder persönlichem Mißgeschick oder romantischen Katastrophen erzählen, scheint in diesem Fall nicht genug zu sein. »Wie furchtbar«, sagt sie.
    »Du brauchst mich nicht zu bedauern«, sagt Zenia. »Ich hab ja nichts davon mitbekommen. Ich wußte nicht, was los war, also war es auch keine Belastung für mich; obwohl ich wahrscheinlich schon gemerkt habe, daß sich etwas verändert hatte, daß meine Mutter nicht mehr da war. Jedenfalls bekam meine Tante Kontakt mit deinem Vater, oder vielmehr mit Freunden deines Vaters. Über den Mann, der ihr die Papiere besorgt hatte – dieser Mann kannte jemanden, der jemand anderen kannte, und nachdem sie sie überprüft und ihr einen Batzen abgeknöpft hatten, reichten sie sie weiter. Alle Schwarzmärkte funktionieren auf diese Weise. Versuch mal, Drogen zu kaufen, genau dasselbe: sie überprüfen dich, sie reichen dich weiter. Zum Glück hatte meine Tante etwas Geld, und ihre Verzweiflung muß wohl überzeugend gewesen sein. Wie gesagt, sie hatte nie geheiratet, und so machte sie mich zu ihrem Anliegen; sie setzte ihr Leben für mich aufs Spiel. Auch für ihren Bruder. Sie wußte damals nicht, daß er ermordet worden war, sie dachte, er würde wiederkommen. Und wenn er wirklich wiederkam, und sie hätte versagt, was hätte sie dann zu ihm sagen sollen?
    Jedenfalls brachten dein Vater und seine Freunde sie raus, über Dänemark, und dann über Schweden. Sie sagten ihr später, daß es relativ einfach war. Sie hatte keinen besonderen Akzent, und sie sah so deutsch aus, wie man nur aussehen kann.
    Meine Tante war eine Art Mutter für mich. Sie zog mich groß, sie tat ihr Bestes, aber sie war keine glückliche Frau. Der Krieg hatte sie zerstört, vernichtet. Der Verlust ihres Bruders und seiner Familie, und dann auch die Schuldgefühle – daß sie nicht in der Lage gewesen war, das alles zu verhindern, daß sie irgendwie daran beteiligt gewesen war. Sie sprach oft von deinem Vater, und was für ein Held er war. Er gab ihr einen Teil ihres Glaubens zurück. Deshalb hab ich oft so getan, als wär dein Vater mein Vater, und daß er irgendwann kommen würde, um mich zu holen, und dann würde ich zu ihm in sein Haus ziehen. Dabei wußte ich nicht einmal, wo er lebte.«
    Roz ist praktisch in Tränen. Sie erinnert sich an ihren Vater, den alten Schurken; sie ist froh, daß seine dubiosen Talente zu etwas nütze waren, weil er ihr von ihren Eltern immer noch der Liebste ist und sie sich über jede Gelegenheit freut, gut von ihm zu denken. Die beiden Martinis tragen auch nicht unbedingt dazu bei, daß sie kühlen Kopf behält. Was für ein Glück sie selbst hat, mit ihren drei Kindern und ihrem Mann, ihrem Geld, ihrer Arbeit, ihrem Haus. Wie ungerecht das Leben ist! Wo war Gott, als das alles passierte, im finsteren Europa – die Ungerechtigkeit, die gnadenlose Brutalität, das Leid? Wahrscheinlich in einer dringenden Besprechung. Hatte das Telefon abgestellt. Schuldgefühle lassen ihre Augen überquellen. Sie würde Zenia gerne etwas geben, irgendeine Kleinigkeit, um sie für die Vernachlässigung durch Gott zu entschädigen, aber was könnte auch nur annähernd angemessen sein?
    Dann hört sie eine kleine Stimme, eine kleine Stimme, klar wie Eiswasser, ganz hinten in ihrem Hinterkopf. Es ist die Stimme der Erfahrung. Es ist die Stimme Tonys. Zenia lügt , sagt sie.
    »Erinnerst du dich noch an Tony?« platzt Roz heraus, bevor sie es verhindern kann. »Tony Fremont aus der McClung Hall?« Wie kann sie nur so gemein sein, wie kann sie nur so beschissen sein, Zenias Geschichte anzuzweifeln, und sei es auch nur in ihrem Kopf? Niemand würde bei so was lügen. Es wäre zu gemein, es wäre zu zynisch, es wäre geradezu ein Frevel!
    »Aber sicher«, lacht Zenia. »Das ist eine Million Jahre her! Tony und ihre komische Sammlung von Kriegen! Ich habe gesehen, daß sie ein paar Bücher geschrieben hat. Sie war schon immer ein cleveres kleines Ding.«
    Das clevere kleine Ding bringt Roz dazu, sich im Vergleich groß und dumm vorzukommen. Aber sie stapft weiter. »Tony hat gesagt,

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