Die Räuberbraut
versucht, sich aus allem herauszuwinden und herauszureden. Sie hat alles zugegeben, sie hat alles eingestanden, sie hat gebeichtet. Das zeigt – was? Ehrlichkeit? Guten Willen? Reife? Irgendeine bewundernswerte Eigenschaft. Die Nonnen legten immer sehr viel Wert auf Geständnisse, so viel Wert, daß Roz einmal sogar gestand, die Hundekacke in den Umkleideraum getan zu haben, obwohl sie es gar nicht war. Gestehen bewahrte einen zwar nicht vor der Bestrafung – sie bekam trotzdem den Riemen zu spüren, und wenn man beim Priester beichtete, mußte man Buße tun –, aber sie hatten dann eine höhere Meinung von einem, sagten sie wenigstens.
Außerdem hat Zenia die Welt gesehen. Die weite Welt, weiter als Toronto; die tiefe Welt, tiefer als der kleine Teich, in dem Roz ein so großer und behüteter Frosch ist. Zenia gibt Roz das Gefühl, nicht nur geschützt, sondern lasch zu sein. Ihre eigenen Schlachten waren so unbedeutend.
»Du hast dich gut geschlagen«, sagt Roz. »Ich mein – was für eine Story! Einfach großartiges Material!« Sie denkt an die Zeitschrift, weil das genau die Art von Story ist, die sie gerne bringen: ermutigend, eine Erfolgsstory. Eine Story, die davon handelt, wie man Ängste und Hindernisse überwindet, wie man sich selbst die Stirn bietet und ein ganzer Mensch wird. Zenias Geschichte erinnert Roz an die Story, die sie vor zwei Monaten gebracht haben, über eine Frau, die ihre Bulimie besiegte. Roz kann Geschichten über das eine verlorene Schaf, das mehr Freude im Himmel verursacht, nur schwer widerstehen. Auch die Tante gäbe eine gute Story ab: WiseWomanWorld liebt Heldinnen aus dem richtigen Leben, ganz gewöhnliche Frauen, die ungewöhnlichen Mut an den Tag legen.
Zu ihrem Erstaunen und zu ihrem Entsetzen fängt Zenia an zu weinen. Tränen rollen ihr aus den Augen, die offen bleiben und fest auf Roz gerichtet sind. »Ja«, sagt sie. »Wahrscheinlich ist das alles, was es ist. Eine Story. Material. Etwas, das man benutzen kann.«
Verdammt noch mal, Roz, wie kann man nur dermaßen ins Fettnäpfchen treten, denkt Roz. Miss Takt des Jahres 1983. »Ach, Süße, so hab ich das doch nicht gemeint! « sagt sie.
»Nein«, sagt Zenia. »Ich weiß. Niemand meint es so. Es ist auch nur, weil ich so fertig bin. Ich bin immer am Abgrund entlanggeschlittert, ich bin so lange da draußen gewesen; ich hab immer alles allein machen müssen. Ich komm mit den Männern einfach nicht zurecht, sie wollen immer nur dasselbe von mir, und ich kann diese Art von Kompromiß einfach nicht mehr eingehen. Ich mein, du hast das alles hier, du hast ein Haus, einen Mann, du hast deine Kinder. Ihr seid eine Familie; du hast festen Boden unter den Füßen. Ich hab das alles nie gehabt, ich hab nie dazugehört. Ich hab mein ganzes Leben lang aus dem Koffer gelebt; selbst jetzt leb ich von der Hand in den Mund, das ist nun mal so, wenn man freiberuflich arbeitet, und allmählich geht mir die Energie aus, verstehst du? Ich hab einfach keine Basis, nichts Beständiges!«
Wie sehr sich Roz in Zenia getäuscht hat! Jetzt sieht sie sie in einem völlig anderen Licht. Es ist ein stürmisches Licht, ein trostloses Licht, ein einsames, regnerisches Licht; inmitten dieses Lichts kämpft Zenia weiter, hin und her geschubst von den Männern, hin und her getrieben vom Wind des Schicksals. Sie ist nicht das, was sie zu sein scheint, eine schöne und erfolgreiche Karrierefrau. Sie ist ein einsames Kind, ein verlassenes, herumirrendes Kind, das kein Zuhause hat; sie schwankt am Wegesrand, sie fällt. Roz öffnet ihr Herz und breitet ihre Flügel aus, ihre Engelsflügel aus Pappe, ihre unsichtbaren Taubenflügel, ihre warmen, beschützenden Flügel, und nimmt sie auf.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt sie mit ihrer beruhigendsten Stimme. »Wir werden uns was einfallen lassen.«
47
Mitch begegnet Zenia in der Eingangshalle, als sie gerade geht und er kommt. Sie begrüßt ihn mit dem kürzesten, dem frostigsten Nicken.
»Deine alte Freundin ist ganz schön feindselig«, sagt er zu Roz.
»Das find ich nicht«, sagt Roz. »Sie ist nur müde.«
Sie will Zenias traurige Lebensgeschichte nicht mit ihm teilen. Es ist eine Geschichte, die nur ihr erzählt wurde, ihr allein, die nur für ihre Ohren bestimmt war, von Außenseiterin zu Außenseiterin. Nur Roz kann sie verstehen. Mitch nicht, denn was weiß er denn schon, was es heißt, draußen vor der Tür zu stehen?
»Müde?« sagt Mitch. »Sie hat nicht besonders müde
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