Die Räuberbraut
eine ältere Frau, ein wenig abseits. Die Tante, nimmt Roz an. Die Kinder sind beide blond.
Am meisten ist Roz darüber erstaunt, wie modern sie aussehen: die knielangen Röcke der Frauen – aus den späten Zwanzigern, den frühen Dreißigern? – die eleganten Hüte, das Make-up, es könnte eine Retro-Look-Aufnahme sein, in irgendeiner Modezeitschrift von heute. Nur die Kleider der Kinder sind archaisch; und ihre Frisuren. Anzug und Krawatte und hinten und an den Seiten kurzgeschnittene Haare beim Jungen, ein gerüschtes Kleid und Ringellöckchen beim Mädchen. Das Lächeln auf ihren Gesichtern ist ein wenig verkrampft, aber so hat man damals nun einmal gelächelt. Es ist ein gekünsteltes Lächeln. Es muß sich um einen besonderen Anlaß gehandelt haben: einen Ausflug, einen Feiertag, einen Geburtstag.
»Das Foto wurde vor dem Krieg aufgenommen«, sagt Zenia. »Bevor es wirklich schlimm wurde. Ich war nie Teil dieser Welt. Ich wurde erst kurz nach Kriegsanfang geboren; ich war ein Kriegsbaby. Jedenfalls ist das alles, was ich habe, dieses Foto. Es ist alles, was von ihnen blieb. Meine Tante hat gesucht, nach dem Krieg. Es war nichts von ihnen übrig.« Sie steckt das Foto vorsichtig in ihre Brieftasche zurück.
»Was war mit deiner Tante?« fragt Roz. »Wieso wurde sie nicht auch abgeholt?«
»Weil sie keine Jüdin war«, sagt Zenia. »Sie war die Schwester meines Vaters. Mein Vater war auch kein Jude, aber seit den Nürnberger Gesetzen wurde er als einer behandelt, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Verdammt, meine Mutter war auch keine Jüdin, nicht der Religion nach. Sie war katholisch. Aber zwei ihrer Großeltern waren Juden gewesen, und deshalb wurde sie als Mischling eingestuft. Ersten Grades. Hast du gewußt, daß sie verschiedene Gradeinteilungen hatten?«
»Ja«, sagt Roz. Zenia ist also eine Mischung, genau wie sie selbst!
»Einige dieser Mischlinge überlebten länger als die richtigen Juden«, sagt Zenia. »Meine Eltern, zum Beispiel. Wahrscheinlich dachten sie, ihnen würde nichts passieren. Sie hielten sich für gute Deutsche. Sie hatten keine Kontakte zur jüdischen Gemeinde, von daher hörten sie nicht einmal die Gerüchte; oder falls sie sie hörten, glaubten sie sie nicht. Es ist schon erstaunlich, was die Leute alles nicht glauben wollen.«
»Und was war mit deiner Tante?« fragt Roz. »Wieso hat sie das Land verlassen? Wenn sie keine Jüdin war, war sie dann nicht sicher?« Obwohl, wenn sie es recht bedenkt, sicher in diesem Zusammenhang ein dummer Begriff ist.
»Meinetwegen«, sagt Zenia. »Früher oder später wären sie dahintergekommen, daß meine Eltern drei Kinder hatten, nicht nur zwei. Oder irgendein Nachbar meiner Tante hätte mich gesehen oder gehört, und uns verraten. Ein Baby in der Wohnung einer unverheirateten Frau, die noch gestern kein Baby hatte! Es ist ein richtiger Kick für die Leute, wenn sie jemanden denunzieren können. Es gibt ihnen das Gefühl moralischer Überlegenheit. Mein Gott, wie ich diese aufgeblasene Selbstgerechtigkeit hasse! Leute, die sich auf die Schulter klopfen, weil sie einen Mord begangen haben!
Also fing meine Tante an, sich nach Möglichkeiten umzuhören, wie sie mich aus dem Land schaffen könnte, und fand sich in einer anderen Welt wieder – der Welt des Untergrunds, der Welt des Schwarzmarkts. Sie hatte immer oben gelebt, aber sie mußte in diese andere Welt gehen, um mich zu beschützen. Es gibt nirgendwo auf der Welt einen Ort, an dem diese Welt nicht existiert; man muß nur ein paar Schritte zur Seite machen, ein paar Schritte nach unten, und da ist sie, direkt neben der Welt, die die Leute für normal halten. Erinnerst du dich an die Fünfziger? Weißt du noch, wie es war, wenn man eine Abtreibung haben wollte? Man brauchte nur drei Anrufe zu machen. Vorausgesetzt natürlich, man konnte zahlen. Man wurde einfach weitergereicht, an jemanden, der jemanden kannte, der jemanden kannte. Genauso war es damals in Deutschland, wenn es um Pässe und ähnliches ging, man mußte nur vorsichtig sein, wen man fragte.
Meine Tante brauchte falsche Papiere, in denen stand, daß ich ihre Tochter war, mit einem Ehemann, der in Frankreich gefallen war, und sie bekam sie; aber sie hätten einer gründlichen Überprüfung nicht standgehalten. Ich mein, sieh mich an! Ich seh nicht besonders arisch aus. Mein Bruder und meine Schwester waren beide blond, und mein Vater hatte helle Haare, genau wie meine Mutter. Ich muß irgendwie eine Generation
Weitere Kostenlose Bücher