Die Räuberbraut
Schneid, genau wie ihre andere Patentochter, Augusta. Keine von den dreien ist das, was man als zurückhaltend bezeichnen würde – alle drei würden sich auf einem Pferd wie zu Hause fühlen, ohne Sattel, mit fliegenden Haaren über die Ebenen hinwegfegen, kein Pardon kennen. Tony weiß nicht genau, wo sie dieses Selbstvertrauen herhaben, diesen offenen, ruhigen Blick, diese humorvollen, aber unnachgiebigen Lippen. Sie haben nichts von der Schüchternheit, die einst bei Frauen so eingebaut schien. Tony hofft, daß sie im Triumph durch die Welt galoppieren werden, mit mehr selbstbewußtem Stil, als sie selbst zusammenkratzen konnte. Sie haben ihren Segen; aber aus der Ferne, denn aus der Nähe wirkt Augusta eine Spur eisig – sie ist so erfolgsversessen –, und die Zwillinge sind gigantisch geworden; gigantisch und unvorsichtig. Tony hat ein bißchen Angst vor ihnen. Sie könnten aus Versehen auf sie treten.
Jedenfalls war es dieses Mal Tony, die das Toxique vorschlug. Roz mag etwas zu erzählen haben, aber Tony hat auch etwas zu erzählen, und das Toxique ist der passende Ort dafür. Sie hat ihren üblichen Tisch verlangt, den in der Ecke vor dem Rauchglasspiegel. Bei der jungen Frau – oder möglicherweise Mann –, die neben ihr auftaucht, in einem enganliegenden schwarzen Trikot mit breitem, nietenbesetztem Ledergürtel und fünf Ohrringen in jedem Ohr, bestellt sie eine Flasche Weißwein und eine Flasche Evian.
Charis kommt im gleichen Augenblick wie die Getränke. Sie sieht merkwürdig blaß aus. Na ja, denkt Tony, sie sieht immer merkwürdig blaß aus, aber heute abend noch mehr als sonst. »Mir ist etwas sehr Seltsames passiert«, sagt sie zu Tony, als sie ihren feuchten, wollenen Strickmantel und ihre fusselige, gestrickte Mütze ablegt. Aber es ist nicht ungewöhnlich, daß Charis so etwas sagt, und deshalb nickt Tony nur und schenkt ihr ein Glas Evian ein. Früher oder später werden sie die Geschichte von dem Traum zu hören bekommen, in dem irgendwelche schimmernden Leute auf Bäumen saßen, oder von dem seltsamen Zufall, bei dem es um irgendwelche Hausnummern geht, oder um Katzen, die genau wie andere Katzen aussahen, die irgend jemand gehörten, den Charis früher einmal kannte, aber jetzt nicht mehr, aber Tony würde lieber damit warten, bis Roz da ist. Roz hat mehr Verständnis für diese Art von intellektuellem Wischiwaschi, und mehr Talent dafür, das Thema zu wechseln.
Roz kommt herein und winkt und juhut und trägt einen flammendroten Trenchcoat mit passendem Südwester und schüttelt sich. »Heiliger Strohsack!« sagt sie und zieht ihre purpurroten Handschuhe aus. »Wartet, bis ihr hört, was ich euch zu erzählen habe. Ihr werdet es nicht glauben! « Ihr Ton ist eher verzweifelt als jubilierend.
»Du hast Zenia getroffen«, sagt Charis.
Roz’ Mund klappt auf. »Woher weißt du das?« sagt sie.
»Weil ich sie auch gesehen habe«, sagt Charis.
»Ich auch«, sagt Tony.
Roz läßt sich schwer auf ihren Stuhl fallen und sieht die beiden nacheinander an. »Also gut«, sagt sie. »Erzählt.«
Tony sitzt in der Halle des Arnold Garden Hotel, das nicht ihre eigene erste Wahl gewesen wäre. Es ist ein unschöner Fünfziger- Jahre-Bau, außen mit Betonplatten verkleidet, und mit Unmengen von Glas. Von ihrem Platz kann sie durch die Doppeltür nach hinten hinaus in einen Innenhof sehen, der mit klobigen Pflanzkästen besetzt ist und in der einen Ecke einen großen, runden Springbrunnen hat, der um diese Jahreszeit natürlich nicht in Betrieb ist, und darüber Reihen und Reihen von Balkonen mit orange gestrichenen Geländern aus Eisenblech. Die postmoderne Markise und das viele Messing am Eingang sind nur nachträgliches Beiwerk: das Wesen des Arnold Garden sind diese Balkone. Obwohl sichtliche Bemühungen unternommen wurden: über Tony dräut zum Beispiel ein elefantenrüsselähnliches Arrangement aus rötlichen Trockenblumen und Draht und seltsamen Schoten und fordert alle, die ästhetisch uneingeweiht sind, heraus, es häßlich zu nennen.
Der Innenhof und der Brunnen müssen der Gartenteil des Arnold Garden sein, entscheidet Tony; aber der Arnold ist ihr ein Rätsel. Arnold wie Matthew Arnold, den mit den ahnungslosen Armeen, die des Nachts aufeinanderstoßen? Oder Arnold wie in Benedict Arnold, Verräter oder Held, je nachdem, auf welchem Standpunkt man steht? Oder vielleicht ist es auch ein Vorname, der Vorname irgendeines längst vergessenen Stadtrats, irgendeines würdevollen
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