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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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nirgends zu sehen, und die Soldaten sind schon hier, um ihre Mutter mitzunehmen.
     
    Charis liegt in ihrem weißen, rankenbedeckten Bett, die Arme an den Seiten, die Handflächen offen, die Augen geschlossen. Hinter ihren Augen ist sie bei vollem Bewußtsein. Sie fühlt, wie ihr Astralleib sich aus ihr erhebt, in die Höhe steigt und über ihr schwebt wie eine Maske, die man von einem Gesicht abgenommen hat. Auch ihr Astralleib trägt ein weißes Baumwollnachthemd.
    Wie flüchtig wir unsere Körper bewohnen , denkt sie. In ihrem Körper aus Licht – klar wie Gelatine – gleitet sie durch das Fenster und über den Hafen. Unter ihr ist die Fähre; sie fliegt näher und folgt ihr. Um sich herum hört sie das Rauschen von Flügeln. Sie sieht sich in der Erwartung um, Möwen zu sehen, und stellt überrascht fest, daß es eine Schar Hühner ist.
    Sie erreicht das andere Ufer und schwebt über die Stadt hinweg. Vor ihr ist ein großes Fenster, das Fenster eines Hotels. Sie nähert sich dem Glas und schlägt einen Augenblick dagegen, wie eine Motte. Dann schmilzt es wie Eis, und sie fliegt hindurch.
    Zenia ist im Zimmer, sie sitzt in einem Sessel, in einem weißen Nachthemd, so wie Charis eins trägt, und bürstet sich vor dem Spiegel die wolkigen Haare. Die Haare zucken wie Flammen, wie die Äste dunkler Zypressen, die nach dem Himmel lecken; sie knistern vor statischer Elektrizität; blaue Funken sprühen aus den Spitzen. Zenia sieht Charis und macht ihr ein Zeichen, und Charis kommt näher und näher, bis sie sich und Zenia nebeneinander im Spiegel sieht. Dann lösen Zenias Umrisse sich auf wie Wasserfarben im Regen, und Charis verschmilzt mit ihr. Sie schlüpft in sie hinein wie in einen Handschuh, sie gleitet in sie hinein wie in ein Kleid aus Fleisch, sie sieht jetzt durch ihre Augen. Und sie sieht sich selbst, sieht sich selbst im Spiegel, sieht sich selbst mit Macht. Ihr Nachthemd kräuselt sich in einem unsichtbaren Wind. Unter ihrem Gesicht liegen die Knochen, dunkler und dunkler durch das Glas, wie ein Röntgenbild; jetzt kann sie in die Dinge hineinsehen, jetzt kann sie sich in Energie verwandeln und feste Gegenstände durchdringen. Möglicherweise ist sie tot. Es ist schwer, sich daran zu erinnern. Möglicherweise ist das hier eine Wiedergeburt. Sie breitet die Finger ihrer neuen Hände aus und fragt sich, was sie tun werden.
    Sie schwebt zum Fenster und sieht hinaus. Tief unten, zwischen den glühenden Lichtern und den zahlreichen Leben, schwelt etwas langsam vor sich hin; der Geruch durchdringt das Zimmer. Alles brennt irgendwann, sogar Steine können brennen. Im Zimmer hinter ihr herrscht die Tiefe des Weltraums, wo Atome umhergeweht werden wie Asche, getragen von rastlosen, interstellaren Winden, verbannte Seelen, die Buße tun müssen...
    Es klopft an der Tür. Sie geht hin, um sie zu öffnen, weil es das Zimmermädchen mit den Handtüchern sein wird. Aber es ist nicht das Zimmermädchen, es ist Billy, in einem gestreiften Schlafanzug, sein Körper ist älter geworden, aufgedunsen, sein Gesicht rohes Fleisch. Wenn er sie berührt, wird sie zerfallen wie ein Bündel aus verrottetem Leder. Es sind ihre neuen Augen, die das bewirken. Sie reibt und zerrt an ihrem Gesicht herum und versucht, aus diesen Augen herauszukommen, diesen dunklen Augen, die sie nicht mehr haben will. Aber Zenias Augen wollen sich nicht lösen; sie kleben an ihren eigenen Augen wie Fischschuppen. Wie Rauchglas verdunkeln sie alles.
    Roz geht durch den Wald, durch die zersplitterten Stämme und das dornige Unterholz, in einem Matrosenkleid, das ihr zu groß ist. Sie weiß, daß dieses Kleid nicht ihr gehört, sie hat nie so ein Kleid besessen. Ihre Füße sind nackt und kalt; der Schmerz schießt durch sie hindurch, denn die Erde ist mit Schnee bedeckt. Vor ihr sind Fußspuren: ein roter Fußabdruck, ein weißer Fußabdruck, ein roter Fußabdruck. Ein Stück weiter rechts ist eine Baumgruppe. Viele Menschen sind hier vorbeigekommen; sie haben Dinge weggeworfen, die sie bei sich trugen, eine Lampe, ein Buch, eine Uhr, einen Koffer, der aufgesprungen ist, ein Bein mit einem Schuh, einen Schuh mit einer diamantenen Schnalle. Geldscheine flattern überall herum, wie weggeworfene Bonbonpapierchen. Die Fußspuren führen in die Bäume hinein, kommen aber nicht wieder heraus. Sie weiß, daß sie ihnen nicht folgen darf; irgend etwas ist da drin, etwas Beängstigendes, das sie nicht sehen will.
    Aber sie ist in Sicherheit, denn hier ist ihr

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