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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Garten. Der Rittersporn, schwarz vor Mehltau, ist umgeknickt und liegt verloren im Schnee. Es gibt auch weiße Chrysanthemen, aber sie sind nicht eingepflanzt, sie stehen in großen, zylindrischen, silbernen Vasen, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Trotzdem ist das hier ihr Haus. Das Fenster nach hinten heraus ist kaputt, die Tür hängt lose in den Angeln, aber sie geht trotzdem hinein, sie geht durch die weiße Küche, in der sich nichts bewegt, vorbei an dem Tisch mit den drei Stühlen. Alles ist voller Staub. Sie wird saubermachen müssen, weil ihre Mutter nicht mehr da ist.
    Sie geht die Hintertreppe hinauf, ihre allmählich auftauenden Füße prickeln und kribbeln. Der Flur oben ist leer und still; keine Musik ist zu hören. Wo sind ihre Kinder? Sie müssen erwachsen sein, sie müssen aus dem Haus sein, sie müssen woanders leben. Aber wie kann das sein, wie kann sie erwachsene Kinder haben? Sie ist zu jung dafür, sie ist zu klein. Irgend etwas stimmt nicht mit der Zeit.
    Dann hört sie das Geräusch der Dusche. Mitch muß hier sein, was sie mit Freude erfüllt, weil er so lange weg war. Sie möchte hineinlaufen und ihn begrüßen. Durch die offene Schlafzimmertür wirbelt der Dampf.
    Aber sie kann nicht hineingehen, weil ein Mann in einem Mantel ihr den Weg versperrt. Orangenes Licht dringt aus seinem Mund und seinen Nasenlöchern. Er öffnet seinen Mantel, und da ist sein heiliges Herz, ebenfalls orange, wie ein glühendes Irrlicht, es flackert im Wind, der plötzlich aufgekommen ist. Er hebt die linke Hand, um sie aufzuhalten. Nonne , sagt er.
    Allem äußeren Anschein zum Trotz, allem zum Trotz, weiß sie, daß dieser Mann Zenia ist. Von der Decke fängt es an zu regnen.

51
    Es ist schon dunkel. Ein feiner, eisiger Nieselregen fällt, und die Geschäfte mit ihren hell erleuchteten Schaufenstern und die schwarzen Straßen mit ihren roten Neonreflexionen haben das glatte, nasse Aussehen, das Tony mit Regenmänteln aus Plastik und pomadisierten Haaren und frisch aufgetragenem Lippenstift verbindet – ein zwielichtiges, erregendes Aussehen. Autos zischen vorbei, gefüllt mit Fremden, die zu unbekannten Orten fahren. Tony geht zu Fuß.
    Abends ist das Toxique anders. Das Licht ist gedämpfter, dicke Kerzen in Ständern aus rotem Glas flackern auf den Tischen; die Bekleidung der Kellner und Kellnerinnen ist um eine Nuance skandalöser. Ein paar Männer in Anzügen essen zu Abend; Geschäftsleute, vermutet Tony, aber in Begleitung ihrer Geliebten, nicht ihrer Ehefrauen. Sie stellt sich gerne vor, daß solche Männer immer noch Geliebte haben, obwohl sie sie wahrscheinlich nicht so bezeichnen. Freundin. Nebenbeziehung. Gute Bekannte. Das Toxique ist ein Ort, an den man eine gute Bekannte mitnehmen würde, aber nicht unbedingt eine Ehefrau. Aber woher will Tony das wissen? Es ist keine Welt, in der sie sich normalerweise bewegt. Es sind mehr Männer in Lederjacken da als tagsüber. Ein gedämpftes Summen füllt den Raum.
    Sie sieht auf ihre Uhr mit den riesigen Ziffern: die Rockband fängt erst um elf an, und sie hofft, daß sie bis dahin wieder weg sein wird. Sie hatte zu Hause genug Krach um die Ohren; heute mußte sie sich dreißig Minuten akustischer Tortur anhören, zusammengestellt von West und ihr mit voller Lautstärke vorgespielt, begleitet von ekstatischem Armwedeln und begeisterten Gesichtsausdrücken. »Ich glaub, ich hab’s geschafft«, lautete Wests Kommentar. Was sollte sie darauf sagen? »Das ist gut«, brachte sie schließlich über die Lippen. Ein Ausdruck, der für alle Gelegenheiten paßt, und er schien zu genügen.
    Tony ist die erste. Sie war noch nie zum Abendessen im Toxique, nur zum Lunch. Dieses Abendessen wurde in letzter Minute anberaumt: Roz rief völlig außer Atem an und sagte, sie müsse ihnen unbedingt etwas erzählen. Zuerst schlug sie vor, Tony und Charis sollten zu ihr kommen, aber Tony wies sie darauf hin, daß das ohne Auto schwierig sein würde.
    Abgesehen davon ist sie sowieso nicht besonders wild darauf, zu Roz nach Hause zu fahren, obwohl die Zwillinge – theoretisch – ihre Lieblinge sind. Früher hat sie manchmal bedauert, daß sie keine eigenen Kinder hat, obwohl sie, wenn sie an Anthea dachte, nicht so sicher war, daß sie ihre Sache besonders gut gemacht hätte. Patin zu sein paßte besser zu ihr, als Mutter zu sein – zum einen ist es sporadischer –, und sie kann wirklich stolz auf die Zwillinge sein. Sie haben Schneid, einen wundervollen, glänzenden

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