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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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daß sie ins Arnold Garden gehetzt sind, weil Charis eine Vision hatte, als sie in die Flamme einer Kerze sah. Roz hat genug Kriminalromane gelesen, um zu wissen, daß so eine Geschichte Charis sofort verdächtig machen würde. Die Polizisten würden nicht nur denken, daß sie eine arme Irre ist – ehrlich gesagt, könnte Roz es ihnen nicht mal verdenken –, sie würden auch denken, daß sie eine arme Irre ist, die durchaus dazu fähig wäre, Zenia vom Balkon zu stoßen und sich dann eine Erinnerungslücke zuzulegen und anschließend einen Anfall psychedelischer, visionärer Schuldgefühle zu bekommen.
    In Roz’ Hinterkopf hält sich der schmale Splitter eines Verdachts: Vielleicht hätten sie sogar recht. Charis hätte genug Zeit gehabt, ins Hotel zurückzugehen, bevor sie ins Toxique kam. Sie hätte es tun können. Tony ebenfalls, die keinen Hehl aus ihren mörderischen Absichten gemacht hat. Das gleiche gilt übrigens auch für Roz. Zweifellos sind die Fingerabdrücke von ihnen allen überall im ganzen Zimmer verteilt. Aber es gibt noch eine schlimmere Möglichkeit, eine viel schlimmere: es könnte Larry gewesen sein. Wenn das, was Zenia gesagt hat, wahr ist, hätte er ein gutes Motiv. Er war zwar nie ein gewalttätiges Kind, er ging lieber von den anderen Kindern weg, als sich auf einen Streit einzulassen; aber Zenia hätte ihn irgendwie bedrohen können. Sie hätte versuchen können, ihn zu erpressen. Vielleicht stand er unter Drogen. Was weiß Roz denn schon über Larry, jetzt, wo er erwachsen ist? Sie muß so schnell wie möglich nach Hause und herausfinden, was er alles getrieben hat.
    Tony hat Charis auf die Seite gezogen, damit sie kein Unheil anrichten kann. Sie hofft, daß Charis nichts von ihrer Vision sagen wird, die – wie Tony zugeben muß – zutreffend genug war, auch wenn sie mit zeitlicher Verzögerung eintrat. Aber was ist in Wirklichkeit passiert? Tony geht die Möglichkeiten durch: Zenia ist gefallen, Zenia ist gesprungen, Zenia wurde gestoßen. Unfall, Selbstmord, Mord. Tony hält die dritte Möglichkeit für die wahrscheinlichste: Zenia wurde ermordet – bestimmt – von einer oder von mehreren unbekannten Personen. Tony ist froh, daß sie ihre Pistole nach Hause gebracht hat, für den Fall, daß es Einschußlöcher gibt, obwohl sie keine gesehen hat. Sie glaubt nicht, daß Charis es getan hat, denn Charis könnte keiner Fliege etwas zuleide tun – sie ist der festen Überzeugung, daß Fliegen von Menschen bewohnt sein könnten, die in einem früheren Leben mit einem selbst verwandt waren aber was Roz angeht, ist sie sich nicht so sicher. Roz hat ein aufbrausendes Temperament und kann ziemlich heftig werden.
    »Hat jemand von Ihnen diese Frau gekannt?« sagt der Polizist.
    Die drei sehen sich an. »Ja«, sagt Tony.
    »Wir waren alle im Laufe des Tages hier, um sie zu besuchen«, sagt Roz.
    Charis fängt an zu weinen. »Wir waren ihre besten Freundinnen«, sagt sie.
    Was Tony neu ist. Aber für den Augenblick wird es genügen müssen.
     
    Roz fährt Charis zur Anlegestelle, dann fährt sie Tony nach Hause. Tony geht nach oben in Wests Studio, wo er mittels seiner Kopfhörer in zwei seiner Maschinen eingestöpselt ist. Sie schaltet sie aus.
    »Hat Zenia hier angerufen?« sagt sie.
    »Was?« sagt West. »Tony, was ist denn?«
    »Es ist wichtig«, sagt Tony. Sie weiß, daß sie grimmig klingt, aber sie kann es nicht ändern. »Hast du mit Zenia gesprochen? Ist sie hier gewesen?« Sie findet die Vorstellung, wie Zenia sich mit West auf dem Teppich zwischen den Synthesizern herumwälzt, hochgradig geschmacklos. Nein: unerträglich.
    Vielleicht , denkt sie, hat West es getan. Vielleicht ist er zu Zenia ins Hotel gefahren, um zu bitten und zu betteln, in der Hoffnung, noch einmal mit ihr durchbrennen zu können, und Zenia hat ihn ausgelacht, und West hat die Beherrschung verloren und sie vom Balkon geworfen. Falls es so war, will Tony es wissen. Sie will es wissen, damit sie West abschirmen, sich ein wasserdichtes Alibi für ihn ausdenken, ihn vor sich selbst retten kann.
    »Ach so, ja«, sagt West. »Sie hat angerufen, vor, ich weiß nicht, vor ungefähr einer Woche. Aber ich hab nicht mit ihr gesprochen, sie hat nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.«
    »Wie lautete sie?« sagt Tony. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Was wollte sie?«
    »Vielleicht hätte ich es dir sagen sollen«, sagt West. »Aber ich wollte nicht, daß sie dir wehtut. Ich mein, wir haben doch

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