Die Räuberbraut
sie eine weiche Stelle. Vielleicht ist sie zum Teil doch Charis.
»Hat es dir viel ausgemacht, keinen Vater zu haben?« fragt Charis. »Als du klein warst?« Die Frage hat ihr schon lange auf der Zunge gelegen, auch wenn sie sich vor der Antwort fürchtete, denn schließlich war es ihre Schuld, daß Billy weggegangen war. Wenn er weggelaufen war, so war das ihre Schuld, weil sie nicht anziehend genug war, um ihn zu halten, wenn er gekidnappt wurde, war es ihre Schuld, weil sie nicht besser auf ihn aufgepaßt hatte. Jetzt aber hat sie auch noch andere mögliche Bilder von Billy. Ob Zenia gelogen hat oder nicht, vielleicht war es ganz gut, daß Billy nicht geblieben ist.
»Ich wär froh, du würdest aufhören, dich immer so schuldig zu fühlen«, sagt Augusta. »Vielleicht hat es mir was ausgemacht, als ich klein war, aber sieh dich doch um, Mom, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert! Väter kommen und gehen, eine Menge Kinder auf der Insel hatten keinen. Ich kenn Leute, die drei oder vier Väter hatten! Ich mein, es hätte schlimmer sein können, richtig?«
Charis sieht Augusta an, sieht das Licht um sie herum. Es ist ein Licht, das hart ist wie ein Mineral, aber auch weich, ein Glühen, wie das Schimmern einer Perle. Im Inneren der Schichten aus Licht, genau in Augustas Mitte, ist eine kleine Wunde. Sie gehört Augusta, nicht Charis; Augusta selbst muß sie heilen.
Charis fühlt sich wie nach einer Absolution. Sie legt die Hände auf Augustas Schultern, sanft, damit Augusta sich nicht bedrängt fühlt, und küßt sie auf die Stirn.
Bevor sie ins Bett geht, macht Charis eine Meditation für Zenia. Sie muß, denn obwohl sie oft im Zusammenhang mit sich selbst an Zenia gedacht hat, oder im Zusammenhang mit Billy, oder auch im Zusammenhang mit Tony und Roz, hat sie nie wirklich darüber nachgedacht, was Zenia ganz für sich allein genommen war: das Zenia-Sein von Zenia. Sie hat keinen Gegenstand, nichts, was Zenia gehörte, um sich zu konzentrieren, also knipst sie statt dessen das Licht im Wohnzimmer aus und sieht aus dem Fenster, hinaus in die Dunkelheit, hinüber zum See. Zenia wurde in Charis’ Leben gesandt – wurde von Charis ausgewählt –, um sie etwas zu lehren. Charis weiß zwar noch nicht, was es ist, aber mit der Zeit wird sie es herausbekommen.
Sie sieht Zenia vor sich, Zenia liegt im Springbrunnen, die wolkigen Haare ausgebreitet. Während sie hinsieht, kehrt die Zeit sich um, und das Leben fließt in Zenia zurück, und sie erhebt sich aus dem Wasser und fliegt rückwärts wie ein riesiger Vogel, hinauf auf den orangefarbenen Balkon. Aber Charis kann sie nicht dort oben halten, und sie fällt noch einmal; fällt hinunter, sich langsam um sich selbst drehend, hinein in ihre eigene Zukunft. Ihre Zukunft als tote Person, als Person, die noch nicht geboren ist.
Charis fragt sich, ob Zenia als menschliches Wesen zurückkommen wird, oder als etwas anderes. Vielleicht zerbricht die Seele genau wie der Körper, und nur Teile davon werden wiedergeboren, ein Teil hier, ein Teil da. Vielleicht werden bald viele Menschen geboren werden, die einen Teil von Zenia in sich haben. Aber Charis stellt sie sich lieber als Ganzheit vor.
Nach einer Weile schaltet sie auch die anderen Lampen aus und geht nach oben. Bevor sie in ihr rankenbedecktes Bett klettert, holt sie ihr Notizbuch mit dem lavendelfarbenen Papier und ihren Füllfederhalter mit der grünen Tinte hervor und schreibt: Zenia ist ins Licht zurückgekehrt.
Sie hofft, daß das stimmt. Sie hofft, daß Zenia nicht mehr herumwandert, allein und verloren, irgendwo da draußen in der Nacht.
Nachdem Roz Tony nach Hause gefahren hat, fährt sie selbst nach Hause, so schnell sie kann, weil sie fast krank ist vor Sorge. Was, wenn das ganze Haus voller Heroin ist, Heroin, das in kleinen Plastiktütchen unter den Teeblättern oder in der Keksdose versteckt ist, was, wenn das Haus vor Spürhunden und Männern namens Dwayne wimmelt, die sie Madam nennen und sagen werden, daß sie nur ihre Arbeit machen? Sie überfährt sogar eine rote Ampel, was sie normalerweise nie tut, obwohl alle es dieser Tage zu tun scheinen. In der Diele läßt sie ihren Mantel einfach fallen, schlüpft aus den Schuhen und macht sich auf die Jagd nach Larry.
Die Zwillinge sind im Wohnzimmer und sehen sich eine Wiederholung von Raumschiff Enterprise an.
»Grüße, Erdenmutter«, sagt Paula.
»Vielleicht ist sie gar nicht Mom«, sagt Erin. »Vielleicht ist sie ein Replikant.«
»Hi
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