Die Räuberbraut
traurig. So viele Geschenke.
Das Notizbuch ist dazu da, ihre Gedanken hineinzuschreiben, aber bis jetzt hat sie noch keine aufgeschrieben. Sie haßt es, die Schönheit der leeren Seiten zu zerstören, ihr Potential; sie will sie nicht aufbrauchen. Aber jetzt schraubt sie ihren perlgrauen Füllfederhalter auf und schreibt: Zenia muß zurückgehen. Einmal hat sie einen Schönschriftkurs besucht, und daher sieht die Botschaft elegant aus, fast wie Runenschrift. Sie schreibt einen Buchstaben nach dem anderen, hebt zwischen den Worten den Kopf, sieht über den Rand ihrer Lesebrille hinweg, damit ihr nichts von dem entgeht, was auf der anderen Straßenseite passiert.
Zuerst gehen mehr Leute hinein als herauskommen, dann kommen mehr Leute heraus als hineingehen. Keiner von denen, die hineingehen, ist Billy, nicht, daß sie ihn realistischerweise erwartet hätte, aber man kann nie wissen. Keiner von denen, die herauskommen, ist Zenia.
Ihr Kaffee kommt, und ihr Körper befiehlt ihr, zwei Stücke Zucker hineinzuwerfen, also tut sie es, trinkt den Kaffee in hastigen Schlucken und spürt, wie das Koffein und die Saccharose in ihren Kopf rauschen. Sie ist jetzt völlig konzentriert, sie hat einen Röntgenblick, sie weiß, was sie zu tun hat. Weder Tony noch Roz können ihr helfen, sie brauchen ihr hierbei nicht zu helfen, weil ihre Geschichten, die Geschichten, die Zenia enthalten, Enden haben. Wenigstens wissen sie, was passiert ist. Charis weiß es nicht. Charis hat es nie gewußt. Es ist, als wäre Charis’ Geschichte, Charis’ Geschichte mit Billy und Zenia darin, einen Pfad entlanggegangen, und plötzlich hätte es keine Fußabdrücke mehr gegeben.
Endlich, als Charis allmählich denkt, daß Zenia durch den Hinterausgang geschlüpft sein muß oder sich in Luft aufgelöst hat, geht die Tür auf, und sie kommt heraus. Charis senkt den Blick; sie will nicht, daß das ganze Gewicht ihrer aufgeladenen Augen auf Zenia ruht, sie will sich nicht verraten. Aber Zenia wirft nicht einmal einen Blick in ihre Richtung. Sie ist mit jemand zusammen, den Charis nicht erkennt. Mit einem jungen, blonden Mann. Nicht Billy. Er ist zu schmal gebaut, um Billy zu sein.
Aber wenn er Billy wäre, wäre er auch nicht mehr jung. Billy könnte inzwischen sogar fett sein, oder kahl. Aber in ihrem Kopf ist er immer noch genauso alt wie damals, als sie ihn das letzte Mal sah. Genauso alt, genauso groß, alles genau wie damals. Wieder tut sich der Verlust unter ihren Füßen auf, die Grube, die vertraute Falltür. Wenn sie allein wäre, wenn sie nicht hier im Kafay Nwar wäre, sondern zu Hause in ihrer eigenen Küche, würde sie die Stirn sanft gegen die Tischkante schlagen. Der Schmerz ist rot und tut weh, und sie kann ihn nicht einfach auslöschen.
Zenia ist nicht glücklich, denkt Charis. Es ist keine Einsicht, es ist mehr eine Zauberformel, eine Beschwörung. Sie kann nicht glücklich sein. Wenn es Zenia erlaubt wäre, glücklich zu sein, wäre das mehr als unfair: es muß ein Gleichgewicht im Universum geben. Aber Zenia lächelt zu dem Mann auf, dessen Gesicht Charis nicht genau sehen kann, und jetzt nimmt sie seinen Arm, und sie gehen die Straße entlang, und auf diese Entfernung sieht sie durchaus glücklich aus.
Mitgefühl für alle Lebewesen, ruft Charis sich selbst in Erinnerung. Zenia lebt, also bedeutet das Mitgefühl für Zenia. Ja, das bedeutet es, obwohl Charis, als sie eine innere Bestandsaufnahme macht, erkennt, daß sie im Augenblick keinerlei Mitgefühl für Zenia empfindet. Im Gegenteil, sie sieht in aller Deutlichkeit vor sich, wie sie Zenia von einer Klippe stößt, oder von sonst etwas Hohem.
Nimm das Gefühl in Besitz, sagt sie zu sich selbst, denn obwohl es ein durch und durch unwürdiges Gefühl ist, muß es wahrgenommen und akzeptiert werden, bevor man es ablegen kann. Sie konzentriert sich auf das Bild, bringt es näher; sie fühlt den Wind auf ihrem Gesicht, spürt die Höhe, hört, wie ihre Armmuskeln loslassen, wartet auf den Schrei. Aber Zenia gibt kein Geräusch von sich. Sie fällt nur, ihre Haare wehen hinter ihr her wie ein dunkler Kometenschweif.
Charis hüllt das Bild in Seidenpapier und stößt es mit beträchtlicher Mühe aus ihrem Körper heraus. Ich will nur mit ihr reden, sagt sie zu sich selbst. Das ist alles.
Ein Wirrwarr, ein Rascheln trockener Flügel. Zenia hat den Bereich des Kafay Nwar verlassen. Charis sucht ihr Notizbuch, ihren grauen Füllfederhalter, ihre Strickjacke, ihre Lesebrille und
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