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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Luft, dreht sich um sich selbst. Bricht auseinander.

11
    Sie stehen vor dem Toxique und verabschieden sich voneinander. Charis weiß nicht genau, wie sie hierhergekommen ist. Ihr Körper hat sie herausgebracht, von alleine, ihr Körper hat sich um sich selbst gekümmert. Sie zittert, trotz der Sonne, ihr ist kalt, und sie fühlt sich dünner – leichter und poröser. Es ist, als wäre Energie aus ihr herausgesaugt worden, Energie und Substanz, damit Zenia sich materialisieren konnte. Zenia hat den Rückweg geschafft, den Rückweg über den Fluß; sie ist jetzt hier, in einem neuen Körper, und sie hat ein Stück von Charis’ Körper genommen und in sich hineingesaugt.
    Aber das kann nicht richtig sein. Zenia muß am Leben sein, weil auch andere Leute sie gesehen haben. Sie hat sich auf einen Stuhl gesetzt, sie hat sich etwas zu trinken bestellt, sie hat eine Zigarette geraucht. Aber all das sind nicht notwendigerweise Zeichen von Leben.
    Roz umarmt und drückt sie und sagt: »Paß auf dich auf, Süße, ich ruf dich an, okay?« und geht in Richtung ihres Autos. Tony hat sie bereits angelächelt und geht, ist gegangen, die Straße hinunter, wird von ihren kurzen Beinen stetig davongetragen, wie ein aufziehbares Spielzeug. Einen Augenblick bleibt Charis vor dem Toxique stehen, wie verloren. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie könnte sich umdrehen und zurückgehen, zu Zenia gehen, sich vor ihr aufpflanzen; aber die Dinge, die sie zu ihr sagen wollte, haben sich in Luft aufgelöst, sind aus ihrem Kopf davongeflogen. Alles, was bleibt, ist ein sirrendes Geräusch.
    Sie könnte in den Laden zurückgehen, zurück ins Radiance, obwohl es ihr halber Tag ist und Shanita sie nicht erwartet. Sie könnte Shanita erzählen, was passiert ist; Shanita ist eine Lehrerin, vielleicht könnte sie helfen. Aber es könnte auch sein, daß Shanita nicht besonders verständnisvoll wäre. Eine Frau wie die, könnte sie sagen. Sie ist ein Nichts. Wieso machst du dir ihretwegen Sorgen? Du gibst ihr die Macht dabei müßtest du es besser wissen. Welche Farbe hat sie? Welche Farbe hat der Schmerz? Lösch die Kassette!
    Shanita hat noch nie eine Dosis Zenia abbekommen. Sie wird nicht begreifen, sie kann nicht verstehen, daß man Zenia nicht wegmeditieren kann. Wenn das möglich wäre, hätte Charis es schon vor langer Zeit getan.
    Charis beschließt, nach Hause zu gehen. Sie wird die Wanne volllaufen lassen und ein paar Orangenschalen hineintun, etwas Rosenöl, ein paar Nelken; sie wird die Haare hochstecken und in die Wanne steigen und die Arme im duftenden Wasser treiben lassen. Sich selbst auf dieses Ziel zusteuernd, geht sie die abschüssige Straße hinunter, mehr oder weniger in Richtung See und Anlegestelle; aber einen Block weiter biegt sie nach links ab und geht durch eine schmale Gasse zur nächsten Straße, und dann biegt sie wieder links ab, und jetzt ist sie wieder auf der Queen.
    Ihr Körper will nicht, daß sie jetzt schon nach Hause geht. Ihr Körper drängt sie, eine Tasse Kaffee zu trinken; schlimmer noch, eine Tasse Espresso. Das ist so ungewöhnlich – normalerweise richten sich solche Quengeleien ihres Körpers auf ein Glas Fruchtsaft oder Wasser –, daß sie sich verpflichtet fühlt, zu tun, was er will.
    Da ist ein Café, dem Toxique genau gegenüber. Es heißt Kafay Nwar und hat ein grellrosa Neonschild in Vierziger-Jahre-Schrift im Fenster. Charis geht hinein und setzt sich an einen der kleinen, chromgefaßten Tische am Fenster und zieht ihre Strickjacke aus, und als der Kellner kommt, in einem gefältelten Smokinghemd, schwarzer Fliege und Jeans, bestellt sie einen Espresso Esperanto – alle Sachen auf der Karte haben komplizierte Namen, Cappuccino Capprichio, Tarte aux Tunten, Unser Unsäglicher Matschkuchen – und beobachtet die Tür des Toxique. Inzwischen ist ihr klar, daß ihr Körper nicht in erster Linie einen Espresso will. Ihr Körper will, daß sie Zenia ausspioniert.
    Um als Beobachterin weniger aufzufallen, holt sie ihr Notizbuch aus der Umhängetasche, ein wunderschönes Notizbuch, das sie gegen einen Teil ihrer bezahlten Zeit getauscht hat. Es hat einen handgebundenen Einband aus marmoriertem Papier und einen burgunderroten Wildlederrücken, und die Seiten sind zart lavendelblau. Der Füllfederhalter, den sie passend dazu gekauft hat, ist perlgrau und mit graugrüner Tinte gefüllt. Auch er stammt aus dem Radiance, genau wie die Tinte. Der Gedanke, daß das Radiance verschwinden wird, macht sie

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