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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Tod nach dem anderen, bis Charis das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen.
    Tony kann damit umgehen, sie wird damit fertig, vielleicht sind es für sie nur Worte, aber für Charis sind die Worte Bilder, und dann Geschrei und Stöhnen, und dann der Geruch von verwesendem Fleisch, und von Brennen, von brennendem Fleisch, und dann körperlicher Schmerz, und wenn man sich zu lange damit beschäftigt, beschwört man es herauf, aber das kann sie Tony nie erklären, nicht auf eine Weise, die Tony versteht, und außerdem hat sie Angst, daß die beiden denken könnten, daß sie albern ist. Hysterisch, ein Schwachkopf, wunderlich. Sie weiß, daß die beiden das manchmal denken.
    Also stand sie auf und ging die dunkle, rissige Treppe zur Toilette hinunter, in der ein Renoir-Poster an der Wand hing, eine wohlgerundete, rosige Frau, die sich nach dem Bad genüßlich abtrocknet, mit blauen und malvenfarbenen Glanzlichtern, die auf ihrem Körper spielen, und das war friedlich; aber als sie wieder nach oben kam, war Tony immer noch in Schottland, und die Frauen und Kinder des Hochlands wurden durch die Berge gehetzt und aufgespießt wie Schweine und abgeschossen wie Rehe.
    »Hör mir mit den Schotten auf!« sagte Roz, die wieder auf den Holocaust zurückkommen wollte. »Die haben sich ganz gut zu helfen gewußt, sieh dir nur all diese Banker an. Wer interessiert sich schon für die?«
    »Ich«, sagte Charis, die sich damit selbst ebenso überraschte wie die beiden anderen. »Ich interessiere mich für sie.« Sie sahen sie verwundert an, weil sie sich daran gewöhnt hatten, daß Charis eine geistige Sendepause einlegte, wenn sie über Kriege sprachen. Sie dachten, das Thema interessiere sie nicht.
    »Tatsächlich?« sagte Roz, mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wieso, Charis?«
    »Weil man sich für alle Menschen interessieren sollte«, sagte Charis. »Oder vielleicht liegt es daran, daß ich zum Teil schottisch bin. Teils schottisch, teils englisch. All diese Leute, die sich ständig gegenseitig umgebracht haben.« Die Mennoniten erwähnt sie nicht, weil sie Roz nicht aufregen will, obwohl die Mennoniten nicht als richtige Deutsche zählen. Außerdem bringen sie niemals Menschen um, sie werden selbst umgebracht.
    »Süße, es tut mir leid«, sagte Roz zerknirscht. »Natürlich! Das hatte ich völlig vergessen. Wie dumm von moi, daß ich immer denke, du bist die reinste crème de la anglokanadischen Crème. « Sie tätschelte Charis’ Hand.
    »In letzter Zeit hat natürlich niemand sie umgebracht«, sagte Charis. »Nicht alle auf einmal. Aber wahrscheinlich sind wir deshalb hier gelandet.«
    »Hier gelandet?« sagte Tony und sah sich um. Meinte Charis das Toxique oder was?
    »Wegen der Kriege«, sagte Charis unglücklich; es war eine Einsicht, die ihr nicht besonders gefiel, jetzt, wo sie sie hatte. »In diesem Land. Wegen irgendeines Kriegs. Aber das war damals. Wir sollten versuchen, im Jetzt zu leben – findet ihr nicht? Wenigstens versuche ich, das zu tun.«
    Tony lächelte Charis liebevoll an, so liebevoll, wie es bei ihr nur ging. »Sie hat völlig recht«, sagte sie zu Roz, als sei dies ein denkwürdiger Vorfall.
    Recht womit, überlegt Charis. Mit den Kriegen oder dem Jetzt ? Tonys übliche Reaktion auf das Jetzt bestünde darin, Charis darüber aufzuklären, wie viele Babys pro Minute geboren werden, in diesem Jetzt, das ihr so am Herzen liegt, und daß all diese überzähligen Geburten unweigerlich zu weiteren Kriegen führen werden. Und dann würde sie eine Fußnote über das wahnwitzige Verhalten zu eng zusammengepferchter Ratten anfügen. Charis ist dankbar, daß sie das heute nicht tut. Aber jetzt hat sie ihn endlich, den Faden: es geht um Saddam Hussein und die Invasion in Kuweit und was als nächstes passieren wird. »Das Ganze ist beschlossene Sache«, sagt Tony. »Wie beim Rubikon.« Und Charis sagt: »Beim was?«
    »Nicht so wichtig, Süße, nur was Historisches«, sagt Roz, weil wenigstens sie versteht, daß dies nicht Charis’ Lieblingsthema ist, sie gibt ihr damit die Erlaubnis, sich wieder auszuklinken.
    Aber dann fällt Charis ein, was der Rubikon ist. Er hat etwas mit Julius Cäsar zu tun, sie hatten es an der High-School. Er überquerte die Alpen mit Elefanten; auch einer von diesen Männern, die berühmt wurden, weil sie Leute umbrachten. Wenn die Menschen aufhörten, solchen Männern Orden umzuhängen, denkt Charis, wenn sie aufhörten, ihnen zu Ehren Paraden zu veranstalten und Statuen von ihnen zu

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