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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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errichten, dann würden diese Männer aufhören, das alles zu tun. Sie würden mit all dem Töten aufhören. Sie tun es nur, um sich wichtig zu machen.
    Vielleicht ist es das, was Tony war, in einem früheren Leben: Julius Cäsar. Vielleicht wurde Julius Cäsar im Körper einer Frau zurückgeschickt, um ihn zu bestrafen. Einer sehr kleinen Frau, damit er sehen kann, wie es ist, machtlos zu sein. Vielleicht funktionieren die Dinge auf diese Weise.
     
    Die Tür geht auf, und Zenia steht da. Charis wird es eiskalt, dann holt sie tief Luft. Sie ist bereit, sie hat sich vorbereitet, obwohl das Toxique der letzte Ort ist, an dem sie das hier erwartet hätte, diese Manifestation, diese Rückkehr. Der Turm, denkt Charis. Etwas Plötzliches. Etwas, womit du nicht gerechnet hast. Kein Wunder, daß das Pendel einfach stehenblieb, genau über ihrem Kopf] Aber wieso hat Zenia sich die Mühe gemacht, die Tür zu öffnen? Sie hätte doch einfach hindurchgehen können.
    Zenia ist ganz in Schwarz gekleidet, was keine Überraschung ist, Schwarz war ihre Farbe. Aber das Komische ist, daß sie dicker ist. Der Tod hat sie voller gemacht, was nicht normal ist. Geister sollen doch dünner aussehen, ausgehungert, ausgetrocknet, und Zenia macht einen ganz gesunden Eindruck. Vor allem ihre Brüste sind größer. Das letzte Mal, daß Charis sie in Fleisch und Blut sah, war sie rappeldürr, praktisch ein Schatten, ihre Brüste fast vollkommen flach, wie Kreise aus dicker Pappe, die sie sich auf den Brustkorb gelegt und mit den Brustwarzen festgeknöpft hatte. Jetzt ist sie das, was man üppig nennen würde.
    Aber sie ist zornig. Eine dunkle Aura umwirbelt sie wie die Korona der Sonne bei einer Sonnenfinsternis, nur negativ; eine Korona aus Dunkelheit statt aus Licht. Es ist ein aufgewühltes, schlammiges Grün, durchschossen von blutroten und grauschwarzen Linien – die schlimmsten, die destruktivsten Farben, eine tödliche Aureole, eine sichtbare Infektion. Charis wird all ihr eigenes Licht zu Hilfe rufen müssen, das weiße Licht, an dem sie so hart gearbeitet hat, das sie gehortet hat, Jahr um Jahr. Sie wird sofort eine Meditation anfangen müssen, und was für ein Ort dafür! Zenia hat den Ort für diese Begegnung gut gewählt: das Toxique, die schnatternden Stimmen, der Zigarettenrauch und die Weindämpfe, die dicke, atemgefüllte Luft der Stadt, sie alle arbeiten für Zenia. Sie steht in der Tür, sieht sich mit verächtlichen, abfälligen Blicken um, zieht einen ihrer Handschuhe aus, und Charis schließt die Augen und wiederholt für sich: Denk an das Licht.
    »Tony, was ist los?« sagt Roz, und Charis macht die Augen wieder auf. Die Kellnerin geht auf Zenia zu.
    »Sieh dich um, aber langsam«, sagt Tony. »Und schrei nicht.« Charis sieht wie gebannt hin, um zu sehen, ob die Kellnerin durch Zenia hindurchgehen wird; aber das tut sie nicht, sie bleibt stehen. Sie muß etwas spüren. Eine Kälte.
    »O Scheiße«, sagt Roz. »Sie ist es.«
    »Wer?« sagt Charis, in der auf einmal Zweifel aufkommen. Roz sagt kaum jemals »O Scheiße«. Es muß etwas Wichtiges sein.
    »Zenia«, sagt Tony. Sie können sie also auch sehen! Wieso auch nicht? Auch sie haben Zenia genug zu sagen, alle beide. Nicht nur Charis.
    »Sie ist tot«, sagt Charis. Ich möchte wissen , weshalb sie zurückgekommen ist, denkt sie. Wegen wem sie zurückgekommen ist. Zenias Aura ist jetzt verblaßt, oder Charis kann sie nicht mehr sehen: Zenia scheint solide zu sein, substantiell, materiell, beängstigend lebendig.
    »Er hat wie ein richtiger Anwalt ausgesehen«, sagt Charis. Zenia kommt auf sie zu, und sie konzentriert all ihre Kräfte auf den Augenblick des Zusammenpralls; aber Zenia geht an ihnen vorbei, in ihrem Kleid aus irgendeinem üppigen Material, mit ihren langen Beinen, ihren erschreckenden neuen Brüsten, ihren glänzenden Haaren, die wie Nebel um ihre Schultern wallen, ihrem purpurroten, zornigen Mund, umweht von einem schweren, moschusähnlichen Parfüm. Sie weigert sich, von Charis Notiz zu nehmen, sie weigert sich ganz bewußt; sie läßt eine Hand der Dunkelheit über Charis gleiten, ergreift Besitz von ihr, löscht sie aus.
    Zitternd und mit einem Gefühl der Übelkeit im Magen schließt Charis die Augen und kämpft darum, ihren Körper wieder in Besitz zu nehmen. Mein Körper, meiner, wiederholt sie. Ich bin ein guter Mensch. Ich existiere. In der mondhellen Nacht in ihrem Kopf sieht sie ein Bild: etwas Hohes, ein Gebäude, etwas kippt, fällt durch die

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