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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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über ihr Batistnachthemd mit der Weiß-auf-Weiß-Stickerei, reine Handarbeit, das sie passend zum Bett gekauft hat, und wer, bitte, glaubte sie, würde das merken? Sie findet ihre Handtasche und überführt das halbleere Zigarettenpäckchen in die Tasche ihres Morgenmantels. Nicht vor dem Frühstück! Dann geht sie die Treppe hinunter, die Hintertreppe, die Treppe, die früher für das Personal gedacht war, für Kloputzerinnen wie sie, hält sich am Geländer fest, um nicht zu fallen. Die Treppe führt direkt in die Küche, die blitzende, schmucklose, ganz in Weiß gehaltene Küche (Zeit für eine Veränderung!), wo die Zwillinge in langen T-Shirts und gestreiften Strumpfhosen und Gymnastiksocken auf hohen Hockern an der gekachelten Frühstücksbar sitzen. Sie finden es neuerdings chic, in dieser Aufmachung zu schlafen. Es machte soviel Spaß, sie anzuziehen, als sie noch klein waren; die Rüschen, die winzigen Mützchen, man hätte dafür sterben können! Aber verschwunden sind die daunengefütterten Pyjamas mit den Plastiksohlen an den Füßen, verschwunden auch die teuren englischen Nachthemden aus Baumwollflanell mit den häubchen- und schürzentragenden Gänsen. Verschwunden die Bücher, die Roz den beiden vorlas, als sie diese Nachthemden trugen, eng an sie gekuschelt, eine von ihnen in jeder Armbeuge – Alice im Wunderland, Peter Pan, Neuauflagen der liebevoll gemachten Märchenbücher aus der Zeit der Jahrhundertwende, mit Illustrationen von Arthur Rackham. Das heißt, nicht ganz verschwunden: im Keller verstaut. Verschwunden sind die rosa Jogginganzüge, die Waschbärenpantoffeln, die samtenen Partykleider, jede Rüsche und jede Extravaganz. Jetzt darf sie ihnen überhaupt nichts mehr kaufen. Wenn sie auch nur ein simples schwarzes Trägershirt nach Hause bringt, oder einen Schlüpfer, verdrehen sie die Augen.
    Die beiden trinken den Joghurt-und-Blaubeeren-und-Magermilch-Mix, den sie sich in der Küchenmaschine gemacht haben. Roz sieht das vor sich hintauende Päckchen mit den tiefgekühlten Blaubeeren, und die Pfütze aus blauer Milch, die sich wie blasse Tinte auf der Arbeitsplatte ausbreitet.
    »Ihr werdet mir ausnahmsweise den Gefallen tun, das Zeug dieses eine Mal in die Spülmaschine zu räumen«, sagt sie zu den beiden. Sie kann sich die Bemerkung einfach nicht verkneifen.
    Sie richten ihre identischen Augen auf sie, intensiv leuchtende Augen, wie die von Wildkatzen, lächeln ihr identisches, herzloses, herzzerreißendes Lächeln, das ihre leicht raubgierigen, im Augenblick blauen Faunszähne enthüllt, schütteln ihre cremigen, aufgeplusterten Mähnen; und Roz hält den Atem an, wie fast jedesmal, wenn sie die beiden sieht, weil sie so riesig sind, und so herrlich, und sie immer noch nicht so richtig fassen kann, wie es ihr gelungen ist, die beiden hervorzubringen. Ein solches Wesen wäre unglaublich genug gewesen, aber zwei davon!
    Sie lachen. »Oh, es ist die große Mom!« ruft eine von ihnen, die rechte. »Die große Mommy! Komm, wir umarmen sie.«
    Sie springen von ihren Hockern, packen sie und drücken zu. Roz’ Füße lösen sich vom Boden, sie wird schwankend in die Luft gehoben.
    »Laßt mich sofort runter!« kreischt sie. Die beiden wissen genau, daß sie das nicht mag, sie wissen genau, daß sie Angst hat, daß sie sie fallenlassen könnten. Sie werden sie fallenlassen, und sie wird in tausend Stücke zerspringen. Manchmal haben sie kein Gefühl dafür; sie denken, daß sie unzerbrechlich ist. Roz, der Fels in der Brandung. Dann fällt es ihnen wieder ein.
    »Setzen wir sie auf einen Hocker«, sagen sie. Sie tragen sie hinüber und setzen sie ab und klettern wieder auf ihre eigenen Hocker, wie Zirkustiere, die ihr Kunststück vorgeführt haben.
    »Mom, in dem Ding da siehst du aus wie ein Kürbis«, sagt eine von ihnen. Es ist Erin. Roz hat die beiden immer auseinanderhalten können, behauptet sie wenigstens. Zweimal raten, und sie liegt jedesmal richtig. Mitch hatte mehr Probleme. Aber schließlich sah er sie immer nur ungefähr fünfzehn Minuten am Tag.
    »Kürbis ist genau richtig«, sagt Roz mit einer Unbekümmertheit, die sie nicht fühlt. »Fett, orange, breites, freundliches Grinsen, innen hohl und leuchtet im Dunkeln.« Sie braucht ihren Kaffee, und zwar schnell! Sie öffnet die Tür des Gefrierschranks, tut das Päckchen mit den gefrorenen Blaubeeren hinein, findet die Tüte mit den magischen Bohnen und sucht in einem der Schränke mit den herausziehbaren Schubfächern nach der

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