Die Räuberbraut
da, aber er ist nicht angebrochen, also kann sie nichts davon essen, ohne sich zu verraten. Sie macht sich statt dessen ein Marmeladenbrot. Anthea sagt, daß kanadisches Brot eine Schande ist, nichts als Luft und Sägespäne, aber Tony findet, daß es gut schmeckt. Mit dem Brot ist es wie mit vielen Dingen, die Anthea haßt – Tony kommt nicht dahinter. Wieso ist das Land zu groß, oder zu klein? Wie würde »genau richtig« aussehen? Und was ist daran auszusetzen, wie sie redet? Spricht. Sie wischt die Krümel sorgfältig auf und geht wieder ins Bett.
Als sie am nächsten Morgen aufsteht, hat sie keine Gelegenheit, Tee zu kochen – das einzige, womit sie bei Anthea Abbitte dafür leisten kann, daß sie nicht englisch ist weil Anthea schon in der Küche ist und das Frühstück macht. Sie hat ihre Werktagsschürze an, blau und weiß kariert; sie steht am Herd und brät etwas. (Das ist bei ihr eine eher sporadische Aktivität. Tony macht sich ihr Frühstück oft selbst, und sie macht auch ihre eigenen Schulbrote, die sie in einer braunen Papiertüte mitnimmt.)
Tony rutscht auf die gepolsterte Bank der Frühstücksecke. Ihr Vater ist schon da und liest die Zeitung. Tony schüttet kalte Frühstücksflocken in eine Schüssel und löffelt sie mit der linken Hand, weil niemand sie beobachtet. Mit der rechten Hand hält sie sich die Schachtel mit den Frühstücksflocken dicht vor die Augen. Nekcolfeielk ednereiluger, flüstert Tony vor sich hin. Sie sind nie offen und ehrlich und sagen »Verstopfung«. Gnufpotsrev: ein viel befriedigenderes Wort.
Sie hat eine ganze Sammlung von Palindromen – Retter, Reliefpfeiler, nur du Gudrun –, aber mehr noch liebt sie Worte, die von hinten anders klingen als von vorn: schräg, wunderlich, melodiös. Sie gehören zu einer anderen Welt, in der Tony zu Hause ist, weil sie die Sprache beherrscht. Tobegnarednos! Gitsnüg! Zwei Barbaren stehen auf einer schmalen Brücke, brüllen Beleidigungen und fordern den Feind auf, doch rüberzukommen...
»Tony, stell das weg«, sagt ihr Vater mit tonloser Stimme. »Du sollst beim Essen nicht lesen.« Das sagt er jeden Morgen, sobald er mit der Zeitung fertig ist.
Anthea kommt mit zwei Tellern mit Speck und Eiern und Toast und stellt sie vor die beiden, als wäre das hier ein Restaurant. Tony schneidet ihr Ei auf und beobachtet, wie der Dotter wie gelber Kleister in ihren Toast läuft. Dann beobachtet sie, wie der Adamsapfel ihres Vaters auf und ab hüpft, als er seinen Kaffee trinkt. Es ist, als hätte er was im Hals stecken.
Anthea hat heute morgen eine helle, emaillierte Fröhlichkeit an sich, als wäre sie mit Nagellack überzogen. Sie scharrt die Reste der Frühstücksflocken in den Mülleimer und singt: »Froh zu sein, bedarf es wenig...«
»Du hättest zur Bühne gehen sollen«, sagt Tonys Vater.
»Ja, nicht wahr?« sagt ihre Mutter. Ihre Stimme klingt leicht und sorglos.
Nichts war nicht in Ordnung, nichts Offensichtliches; aber als Tony an diesem Nachmittag aus der Schule nach Hause kommt, ist ihre Mutter nicht da. Sie ist nicht ausgegangen, sie ist weg. Sie hat ein eingewickeltes Päckchen für Tony zurückgelassen, auf ihrem Bett, und einen Brief in einem Umschlag. Sobald Tony den Brief und das Päckchen sieht, wird ihr ganzer Körper eiskalt. Sie hat Angst, aber irgendwie ist sie nicht überrascht.
Der Brief ist mit der braunen Tinte geschrieben, die Anthea immer benutzt, auf dem cremefarbenen Papier mit ihren Initialen. In ihrer geschwungenen Schrift mit den verschnörkelten Anfangsbuchstaben hat sie geschrieben:
Liebling, Du weißt, daß ich Dich gerne mitnehmen würde, aber im Augenblick geht das nicht. Wenn Du ein wenig älter bist, wirst Du verstehen, warum. Sei ein braves Mädchen und lerne fleißig in der Schule. Ich werde Dir schrecklich oft schreiben. Deine Mutter, die Dich sehr liebt.
P.S. Ich sehe Dich bald wieder!
(Tony bewahrte den Brief auf, und staunte darüber, später, als sie erwachsen war. Als Erklärung war er natürlich völlig unzulänglich. Außerdem entsprach nichts in ihm der Wahrheit. Erstens war Tony kein Liebling. Die einzigen Leute, die für Anthea Liebling waren, waren Männer, und manchmal Frauen, wenn sie sich über sie geärgert hatte. Sie wollte Tony keineswegs mitnehmen: wenn sie es gewollt hätte, hätte sie es getan, weil sie meistens tat, was sie wollte. Sie schrieb Tony nicht schrecklich oft, sie liebte sie nicht sehr, und sie sah sie keineswegs bald wieder. Und obwohl Tony
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