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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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konnte froh sein, daß er wen gekriegt hat? Und außerdem war es kein Tanzschuppen, es war eine Tanzveranstaltung.«
    »Oh, Verzeihung, aber du kannst von uns armen Barbaren nicht erwarten, daß wir diesen feinen Unterschied kennen.«
     
    Was geschah dann? Nach der Tanzveranstaltung? Das ist unklar. Aber aus irgendeinem Grund beschloß Anthea, Griff zu heiraten. Daß es ihre Entscheidung war, wird von Tonys Vater oft betont: Es hat dich schließlich keiner dazu gezwungen. Aber auf irgendeine Weise wurde ihre Mutter gezwungen. Sie wurde gezwungen, sie wurde genötigt, sie wurde von diesem ungehobelten, räuberischen Klotz, Tonys Vater, in dieses viel zu enge, zweistöckige, pseudo-Tudor, halbgeklinkerte, Halbfachwerk-Haus verschleppt, in dieses öde Viertel, in diese engstirnige Provinzstadt, in dieses zu große, zu kleine, zu kalte, zu heiße Land, das sie mit der seltsamen, verblüfften Wut eines gefangenen Tieres haßt. Du sollst nicht so sprechen! fährt sie Tony an. Sie meint den Akzent. Platt, nennt sie ihn. Aber wie könnte Tony so sprechen wie ihre Mutter? Wie im Radio, um die Mittagszeit? Die Kinder in der Schule würden sie auslachen.
    Und so ist Tony für ihre eigene Mutter eine Ausländerin; aber auch für ihren Vater, denn obwohl sie genauso spricht wie er, ist sie – und das hat er ihr unmißverständlich klargemacht – kein Junge. Wie eine Ausländerin hört sie aufmerksam zu, versucht, die Dinge zu deuten. Wie eine Ausländerin ist sie auf der Hut vor plötzlichen, feindseligen Gesten. Wie eine Ausländerin macht sie Fehler.
     
    Tony sitzt auf dem Boden, beobachtet ihren Vater und denkt an den Krieg, der für sie so rätselhaft ist, anscheinend aber eine entscheidende Rolle in ihrem Leben spielte. Sie würde ihren Vater gerne nach den Schlachten fragen, und ob sie die Pistole sehen darf; aber sie weiß, daß er diesen Fragen ausweichen wird, als hätte er eine empfindliche Stelle, die er beschützen muß. Eine Wunde. Er wird sie daran hindern, den Finger darauf zu legen.
    Manchmal fragt sie sich, was er vor dem Krieg gemacht hat, aber auch darüber will er nicht sprechen. Er hat nur eine einzige Geschichte erzählt. Als er klein war, lebte er auf einer Farm, und sein Vater nahm ihn im Winter mit hinaus in den Wald. Sein Vater wollte Feuerholz hacken, aber der Baum war so hart gefroren, daß die Axt abprallte und ihm ins Bein ging. Er ließ die Axt fallen und ging davon, ließ Griff ganz allein im Wald zurück. Aber er folgte den Fußstapfen durch den Schnee nach Hause: eine rote, eine weiße, eine rote.
    Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte Griff keine Ausbildung bekommen. Dann wäre er immer noch auf der Farm. Und wo wäre Tony dann?
    Ihr Vater macht weiter mit dem, was er gerade macht. Er arbeitet für eine Versicherungsgesellschaft. Lebensversicherungen.
    »Nun, Tony«, sagt ihr Vater ohne aufzusehen. »Was kann ich für dich tun?«
    »Anthea sagt, ich soll dir sagen, daß das Essen fast fertig ist«, sagt sie.
    »Fast fertig?« fragt er. »Oder wirklich fertig?«
    »Weiß ich nicht«, sagt Tony.
    »Dann gehst du besser zurück und fragst«, sagt ihr Vater.
     
    Es gibt Würstchen, wie oft, wenn Anthea am Nachmittag aus war. Würstchen und Salzkartoffeln und grüne Bohnen aus der Dose. Die Würstchen sind ein bißchen angebrannt, aber Tonys Vater sagt kein Wort. Er sagt auch nichts, wenn das Essen wirklich gut ist. Anthea sagt, Tony und ihr Vater sind zwei von derselben Sorte. Zwei kalte Fische.
    Sie bringt die Schüsseln aus der Küche und setzt sich, immer noch in ihrer Schürze. Normalerweise nimmt sie die Schürze ab. »Na«, sagt sie munter. »Wie geht es uns denn heute?«
    »Gut«, sagt Tonys Vater.
    »Das ist schön«, sagt ihre Mutter.
    »Du siehst so feingemacht aus«, sagt ihr Vater. »Gibt es einen besonderen Anlaß?«
    »Nicht sehr wahrscheinlich, oder?« sagt ihre Mutter.
    Danach herrscht Schweigen, das sich mit Kaugeräuschen füllt. Tony hat einen beträchtlichen Teil ihres Lebens damit verbracht, ihren Eltern beim Kauen zuzuhören. Das Geräusch, das ihre Münder machen, die Art, wie ihre Zähne beim Zubeißen aufeinander mahlen, beunruhigt sie. Es ist, als würde man durch ein Badezimmerfenster sehen, wie jemand seine Kleider auszieht, ohne daß derjenige weiß, daß man da ist. Ihre Mutter ißt nervös, mit kleinen Bissen; ihr Vater ißt nachdenklich. Seine Augen sind auf Anthea gerichtet wie auf einen Punkt im fernen Raum; ihre sind ein wenig zusammengekniffen, so als

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