Die Räuberbraut
zählen. Ethel hatte die Gewohnheit, bei der Arbeit zu stöhnen und mit sich selbst zu sprechen: Worte, die wie »Oh ho, oh ha« klangen, und wie »Tittetittetitte«. Wenn irgend möglich, wich Tony ihr aus.
Tony ging ins Schlafzimmer ihrer Eltern und öffnete den Schrank ihrer Mutter. Duft schlug ihr entgegen: kleine Satinbeutelchen mit Lavendelblüten hingen an malvenfarbenen Bändern von jedem Kleiderbügel. Die meisten von Antheas Kostümen und Kleidern waren noch da, und darunter standen die dazu passenden Schuhe auf ihren Spannern. Sie waren wie Geiseln, diese Kleider. Anthea würde sie nie einfach so zurücklassen, nicht für immer. Sie würde zurückkommen müssen, um sie zu holen.
Ethel kam die Treppe herauf; Tony konnte sie ächzen und vor sich hinmurmeln hören. Jetzt hatte sie die Schlafzimmertür erreicht, den Staubsauger an seinem Schlauch hinter sich herziehend. Sie blieb stehen und sah Tony an.
»Deine Mutter ist weggelaufen«, sagte sie. Wenn andere Leute dabei waren, redete sie immer ganz normal.
Tony konnte die Verachtung in Ethels Stimme hören. Hunde liefen weg, Katzen, Pferde. Mütter nicht.
An dieser Stelle teilt sich Tonys Erinnerung in das, was sie sich wünschte, und das, was in Wirklichkeit geschah. Sie wünschte sich, daß Ethel sie in ihre knorrigen Arme nahm, ihr über die Haare streichelte, sie hin und her wiegte, ihr sagte, daß alles wieder gut würde. Ethel, die knotige blaue Adern an den Beinen hatte, die nach Schweiß und Desinfektionsmittel roch, die sie noch nicht einmal mochte! Die aber vielleicht in der Lage gewesen wäre, Trost zu spenden, eine Art von Trost.
In Wirklichkeit aber geschah nichts. Ethel wandte sich wieder ihrem Staubsauger zu, und Tony ging in ihr Zimmer und machte die Tür zu und zog das zu weite Matrosenkleid aus und faltete es zusammen und legte es zurück in die Schachtel.
Nach einer Weile kam Tonys Vater nach Hause und sprach in der Diele mit Ethel, und dann ging Ethel weg, und Tony und ihr Vater aßen zu Abend. Das Abendessen bestand aus einer Dose Tomatensuppe: ihr Vater machte sie in einem Topf warm, und Tony tat ein paar Cracker und ein Stück Cheddar auf einen Teller. Sie kamen sich beide verloren vor, als gäbe es in dieser Mahlzeit Lücken, die nicht gefüllt werden konnten, weil sie sich nicht benennen ließen. Was geschehen war, war so folgenschwer und so beispiellos, daß sie noch nicht darüber sprechen konnten.
Tonys Vater aß schweigend. Das leise schlürfende Geräusch, das er dabei machte, schabte über Tonys Haut. Er sah Tony abschätzend an, taxierend; Tony hatte denselben Ausdruck auf den Gesichtern von Vertretern gesehen, die an der Tür klingelten, und auf denen von Bettlern auf der Straße, und auf denen anderer Kinder, wenn sie einem eine empörende, offensichtliche Lüge auftischen wollten. Sie beide waren jetzt Verschwörer, bedeutete dieser Blick: sie würden sich zusammenschließen, gemeinsame Geheimnisse haben. Geheimnisse, die natürlich mit Anthea zu tun hatten, mit wem sonst? Obwohl Anthea weg war, war sie immer noch da, saß immer noch bei ihnen am Tisch. Sie war gegenwärtiger denn je.
Nach einer Weile legte Tonys Vater seinen Löffel ab; er stieß laut an den Teller.
»Wir werden bestens zurechtkommen«, sagte er. »Nicht wahr?«
Tony war nicht davon überzeugt, fühlte sich jedoch verpflichtet, ihm die gewünschte Bestätigung zu geben. »Ja«, sagte sie.
Tomate, flüsterte sie vor sich hin. Etamot. Einer der großen Seen. Ein steinerner Kriegshammer, der von einem uralten Stamm benutzt wurde. Wenn man ein Wort rückwärts sagte, floß seine Bedeutung aus ihm heraus, und dann war es unbesetzt. Und eine neue Bedeutung konnte in es einfließen. Anthea. Aehtna. Wie Tod, war es vorwärts oder rückwärts fast dasselbe.
Und was dann, und was dann? will Zenia wissen. Aber Tony weiß nicht, was sie sagen soll: wie soll sie die Leere beschreiben? Eine endlose Leere, die Tony mit allem füllte, was ihr in die Finger kam, mit Wissen, mit Daten und Fakten, immer mehr davon. Sie schüttete sie in ihren Kopf, um die Echos zum Verstummen zu bringen. Denn was immer gefehlt hatte, als Anthea da war – jetzt, wo sie nicht mehr da war, war es noch viel schlimmer.
Anthea war ihre eigene Abwesenheit. Sie schwebte irgendwo knapp außerhalb von Tonys Reichweite, eine quälende, geisterhafte Erscheinung, ein Fast , und Tonys Sehnsucht gab ihr eine Art dünner Fleischlichkeit. Wenn sie Tony mehr geliebt hätte, wäre sie hier.
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