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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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älter wurde, verstand sie nicht, warum.)
    Aber in dem Augenblick, in dem Tony den Brief findet, will sie jedes Wort glauben, das darin geschrieben steht, und mit einiger Willensanstrengung gelingt es ihr auch. Es gelingt ihr sogar, mehr zu glauben, als tatsächlich da steht. Sie glaubt, daß ihre Mutter sie holen wird oder daß sie zurückkommen wird. Sie weiß nur nicht, was von beidem.
    Sie öffnet das Päckchen; es ist dasselbe Päckchen, das Anthea gestern bei sich hatte, im Nieselregen, auf dem Heimweg vom Bridge Club, was bedeutet, daß alles im voraus geplant war. Es ist nicht wie sonst, wenn sie aus dem Haus lief und die Tür hinter sich zuknallte, oder sich im Badezimmer einschloß und die Hähne aufdrehte, bis das Wasser in den Flur und die Treppe hinunterlief und durch die Decke tropfte und Griff die Feuerwehr anrufen mußte, damit die Männer die Tür aufbrachen. Das hier ist kein hysterischer Anfall, und keine plötzliche Laune.
    In dem Päckchen ist eine Schachtel, und in der Schachtel ein Kleid. Es ist marineblau und hat einen weiß eingefaßten Matrosenkragen. Da Tony nicht weiß, was sie sonst tun könnte, probiert sie es an. Es ist zwei Nummern zu groß für sie. Es sieht aus wie ein Morgenmantel.
    Tony setzt sich auf den Boden, zieht die Knie hoch, vergräbt die Nase im Rock des Kleides und atmet seinen Geruch ein, einen rauhen, chemischen Geruch nach Wolle und Appretur. Es riecht nach Neu, es riecht nach Vergeblichkeit, es riecht nach lautlosem Kummer.
    Das alles ist, irgendwie, ihre Schuld. Sie hat nicht genügend Tee gekocht, sie hat die Signale falsch gedeutet, sie hat die Schnur oder das Seil oder die Kette losgelassen, oder was immer es war, was ihre Mutter an dieses Haus band und sie festhielt, und wie ein entwischtes Segelboot, oder wie ein Ballon, hat ihre Mutter sich losgerissen. Sie ist irgendwo da draußen, sie wird vom Wind davongeweht. Sie ist verloren.

23
    Das ist die Geschichte, die Tony Zenia erzählt, während sie im Christie’s sitzen und die Köpfe zusammenstecken und mitten in der Nacht bitteren, verbrannt schmeckenden Kaffee trinken. Die Geschichte klingt trostlos, als Tony sie erzählt – trübsinniger und düsterer als damals, als sie sich tatsächlich ereignete. Möglicherweise liegt das daran, daß Tony sie inzwischen glaubt. Damals kam sie ihr vorübergehend vor – ihre Mutterlosigkeit. Jetzt weiß sie, daß sie von Dauer war.
    »Sie ist also einfach abgehauen, einfach so! Wo ist sie denn hin?« fragt Zenia interessiert.
    Tony seufzt. »Sie ist mit einem Mann durchgebrannt. Einem Versicherungsagenten aus der Firma meines Vaters. Er hieß Perry. Er war mit einer Frau namens Rhonda verheiratet, aus dem Bridge Club meiner Mutter. Sie sind nach Kalifornien gegangen.«
    »Gute Wahl«, sagt Zenia lachend. Tony findet nicht, daß es eine gute Wahl war. Es war eine Geschmacklosigkeit, und außerdem inkonsequent: wenn Anthea schon irgendwohin gehen mußte, wieso dann nicht nach England, nach Hause , wie sie immer gesagt hatte? Wieso nach Kalifornien, wo das Brot noch luftiger ist, der Akzent noch platter, die Grammatik noch fragwürdiger als hier?
    Tony findet also gar nicht, daß das alles so schrecklich komisch ist, und Zenia merkt, wie reserviert sie ist und setzt sofort ein anderes Gesicht auf. »Warst du nicht wütend?«
    »Nein«, sagt Tony. »Ich glaub nicht.« Sie erforscht sich selbst, tastet Oberflächen ab, klopft auf Taschen. Sie findet keine Wut.
    »Ich wär wütend gewesen«, sagt Zenia. »Außer mir.«
    Tony weiß nicht genau, wie es wäre, außer sich zu sein. Wahrscheinlich zu gefährlich. Oder aber eine Erleichterung.
     
    Keine Wut damals: nur kalte Panik und Trostlosigkeit; und Angst, denn was würde ihr Vater tun, oder sagen: würde er ihr die Schuld geben?
    Tonys Vater war noch nicht von der Arbeit zurück. Es war niemand im Haus, nur Ethel, die den Fußboden in der Küche wischte. Anthea hatte sie gebeten, an den Nachmittagen, an denen sie ausging, länger zu bleiben, damit jemand da war, wenn Tony aus der Schule nach Hause kam.
    Ethel war eine schroff aussehende, großknochige Frau, deren Gesicht so faltig war wie die Handflächen anderer Leute, mit trockenem, perückenartigem Haar. Sie hatte sechs Kinder. Nur vier von ihnen waren noch am Leben – die beiden anderen waren an Diphtherie gestorben –, aber wenn sie gefragt wurde, wie viele Kinder sie hatte, sagte sie immer sechs. Anthea erzählte das, als sei es ein Witz, als könne Ethel nicht richtig

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