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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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ziele sie auf etwas.
    Nichts bewegt sich, obwohl große Kräfte am Werk sind. Noch bewegt sich nichts. Tony fühlt sich, als würde ein dickes Gummiband, dessen Enden mit den beiden verbunden sind, mitten durch ihren Kopf hindurchführen. Wenn es noch ein bißchen straffer gespannt wird, wird es reißen.
    »Wie war der Bridge Club?« sagt ihr Vater schließlich.
    »Schön«, sagt ihre Mutter.
    »Hast du gewonnen?«
    »Nein, wir sind nur zweite geworden.«
    »Und wer hat gewonnen?«
    Ihre Mutter denkt einen Augenblick nach. »Rhonda und Bev.«
    »Rhonda war da?« sagt ihr Vater.
    »Soll das hier die spanische Inquisition sein?« sagt ihre Mutter. »Ich hab doch gerade gesagt, daß sie da war.«
    »Komisch«, sagt ihr Vater. »Ich bin ihr in der Stadt begegnet.«
    »Sie ist früh gegangen«, sagt ihre Mutter. Sie legt ihre Gabel vorsichtig auf den Tellerrand.
    »Mir hat sie was anderes erzählt.«
    Ihre Mutter schiebt den Stuhl zurück und steht auf. Sie zerknüllt die Papierserviette und wirft sie auf die Würstchenzipfel auf ihrem Teller. »Ich möchte nicht in Anwesenheit von Tony darüber diskutieren«, sagt sie.
    »Worüber?« sagt Tonys Vater. Er kaut weiter. »Tony, du bist entschuldigt.«
    »Bleib wo du bist«, sagt Anthea. »Daß du mich eine Lügnerin genannt hast.« Ihre Stimme ist leise und zittrig, als würde sie gleich weinen.
    »Hab ich das?« sagt Tonys Vater. Er klingt nachdenklich, und gespannt auf die Antwort.
    »Antonia«, sagt ihre Mutter warnend, als wäre Tony im Begriff, etwas Falsches oder Gefährliches zu tun. »Konntest du nicht bis nach dem Nachtisch warten? Ich versuch jeden Tag, sie dazu zu bringen, eine anständige Mahlzeit zu essen.«
    »So ist es richtig. Tu nur so, als wär alles meine Schuld«, sagt Tonys Vater.
    Zum Nachtisch gibt es Reispudding. Er bleibt im Kühlschrank, weil Tony sagt, daß sie keinen will. Sie will tatsächlich keinen, sie hat keinen Hunger. Sie geht nach oben in ihr Zimmer und klettert in ihr Bett mit den Biberbettüchern und versucht, weder zu hören noch sich vorzustellen, was die beiden zueinander sagen.
    Bulcegdirb, murmelt sie in der Dunkelheit vor sich hin. Die Barbaren galoppieren über die Ebene. An ihrer Spitze reitet Tnomerf Ynot. Ihre langen, strähnigen Haare flattern im Wind, in jeder Hand hält sie ein Schwert. Bulc egdirb! ruft sie anfeuernd. Es ist ein Schlachtruf, sie sind auf Raubzug. Sie treiben alle vor sich her, trampeln Ernten nieder, stecken Dörfer in Brand. Sie rauben und plündern und zerschmettern Pianos und töten Kinder. Nachts schlagen sie ihre Zelte auf und essen mit den Händen, ganze Kühe, die sie über dem Feuer braten. Sie wischen ihre fetttriefenden Finger an ihren ledernen Kleidern ab. Sie haben überhaupt keine Manieren.
    Tnomerf Ynot trinkt aus einem Schädel, der an der Stelle, an der früher die Ohren waren, silberne Griffe hat. Sie hebt den Schädel hoch in die Luft, um einen Trinkspruch auf den Sieg auszubringen, und auf den Kriegsgott der Barbaren: Ettovag! ruft sie, und die Horden antworten jubelnd: Ettovag! Ettovag!
    Am Morgen wird zerbrochenes Glas herumliegen.
     
    Mitten in der Nacht wird Tony wach. Sie klettert aus dem Bett, tastet unter dem Nachttisch nach ihren Pantoffeln, die die Form von Kaninchen haben, und schleicht auf Zehenspitzen durch das Zimmer zur Tür. Sie läßt sich leicht öffnen.
    Sie schleicht durch den Flur zum Zimmer ihrer Eltern, aber ihre Tür ist geschlossen, und sie kann nichts hören. Vielleicht sind sie da drin, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich sind sie es. Als sie noch kleiner war, hat sie oft Angst gehabt – oder war es ein Traum? –, daß sie aus der Schule nach Hause kommen und nur ein Loch in der Erde vorfinden könnte, und die Schuhe der beiden, mit Füßen drin.
    Sie geht zur Treppe und dann hinunter, tastet sich, eine Hand auf dem Geländer, vorwärts. Sie steht oft mitten in der Nacht auf; sie dreht oft ihre Runden, um zu überprüfen, ob Schäden entstanden sind.
    Sie tastet sich durch die verschwommene Dunkelheit des stillen Wohnzimmers. Hier und da glänzen im dumpfen Schein der Straßenlampe vor dem Haus Dinge auf: der Spiegel über dem Kamin, die beiden Porzellanhunde auf dem Kaminsims. Tonys Augen fühlen sich riesig an, ihre Pantoffeln gleiten lautlos über den Teppich.
    Erst als sie in der Küche ist, macht sie Licht an. Nichts liegt auf der Anrichte oder auf dem Boden herum, nichts Zerbrochenes. Sie macht den Kühlschrank auf: der Reispudding steht immer noch

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