Die Räuberbraut
zu einem gewissen Grad erhurt; obwohl sie es – wie sie Tony erzählt, während Tonys Augen groß werden und ungläubig blinzeln – jederzeit vorziehen würde, einen netten, gut betuchten Mittelschichtsäufer auszunehmen, es ist schneller und bedeutend sauberer. In der jüngeren Vergangenheit hat sie sich ein bißchen was dazuverdient, indem sie als Kellnerin arbeitete oder in zweitklassigen Hotels die Toiletten saubermachte – Plackerei ist der Preis der Tugend –, aber dann ist sie immer zu müde, um noch lernen zu können.
Sie ist auch so zu müde. Die Liebe geht an die Substanz, und Liebesnester müssen gepolstert werden, und wer soll denn in Zenias und Wests Wohnung kochen und waschen und putzen? Nicht West, der arme Engel; typisch Mann, hat er Mühe, sich ein Ei zu kochen oder eine Tasse Tee zu machen. (Ah, denkt Tony, ich könnte ihm seinen Tee machen! Sie sehnt sich nach derlei kleinen, häuslichen Pflichten, die sie West darbringen könnte. Aber sie zensiert diesen Gedanken fast auf der Stelle. Selbst das Kochen von Wests Teewasser würde sich wie ein Verrat an Zenia anfühlen.)
Außerdem, läßt Zenia durchblicken, ist es nicht gerade billig, der gesellschaftlichen Ordnung zu trotzen: die Freiheit ist nicht umsonst, sie hat ihren Preis. Die vorderste Linie der Befreiungsfront bekommt die ersten Kugeln ab. Jetzt schon zahlen Zenia und West mehr als sie sollten für dieses Rattenloch von Wohnung, weil dieser dreckige Heuchler von Vermieter den Verdacht hat, daß sie nicht verheiratet sind. Toronto ist ja so was von puritanisch!
Wie also kann Tony nein sagen, als Zenia eines Abends in ihr Zimmer kommt, in Tränen aufgelöst und ohne das Referat für Geschichte der Neuzeit, und mit kaum einer Minute Zeit, es zu schreiben? »Wenn ich diesen Kurs nicht besteh, ist alles aus«, sagt sie. »Dann muß ich von der Uni, dann kann ich nur noch zurück auf die Straße. Scheiße, Tony, du hast ja keine Ahnung – du hast einfach keine Ahnung. Es ist die Hölle, es ist so entwürdigend. Ich kann nicht dahin zurück!«
Tony ist bestürzt über ihre Tränen; sie hat Zenia immer für tränenlos gehalten, tränenloser noch, als sie selbst es ist. Und jetzt sind da nicht nur Tränen, sondern viele Tränen, die ununterbrochen über Zenias seltsam unbewegtes Gesicht laufen, das immer zurechtgemacht und geschminkt aussieht, auch wenn es das gar nicht ist. Bei jeder anderen Frau würde die Wimperntusche verlaufen; aber das hier ist keine Wimperntusche, es sind Zenias echte Wimpern.
Das Ganze endet damit, daß Tony zwei Referate schreibt, eins für sich und eins für Zenia. Sie tut es mit einem unguten Gefühl: sie weiß, daß das, was sie tut, hochgradig riskant ist. Sie überschreitet damit eine Linie, eine Linie, die sie respektiert. Aber Zenia ist stellvertretend für Tony rebellisch, und von daher ist es nur fair, daß Tony stellvertretend für Zenia das Referat schreibt. Das jedenfalls ist die Gleichung, die Tony aufmacht, auf einer Ebene unterhalb aller Worte. Tony wird Zenias rechte Hand sein, weil Zenia, und daran gibt es nichts zu deuteln, Tonys linke Hand ist.
Keines der Referate handelt von Schlachten. Der Professor für Geschichte der Neuzeit, der kahlköpfige Dr. Welch mit seinen kurzsichtig blinzelnden Augen und den Lederflicken auf den Ellbogen, ist mehr an Wirtschaft als an Blutvergießen interessiert und hat Tony - die die außer Kontrolle geratene Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzritter vorgeschlagen hat – unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß Kriege seiner Meinung nach kein angemessenes Thema für Mädchen sind. Deshalb geht es in beiden Arbeiten um Geld. Zenias hat den slawischen Sklavenhandel mit dem byzantinischen Kaiserreich zum Inhalt – Tony hat sich wegen Zenias russischer Vorfahren für dieses Thema entschieden –, und Tonys eigene Arbeit behandelt das byzantinische Seidenmonopol im zehnten Jahrhundert.
Byzanz interessiert Tony. Viele Menschen fanden dort auf unerfreuliche Weise den Tod, die meisten von ihnen aus den trivialsten Gründen; man konnte gevierteilt werden, weil man falsch gekleidet war; man konnte die Eingeweide aus dem Leib gerissen bekommen, weil man gegrinst hatte. Neunundzwanzig byzantinische Kaiser wurden von ihren Rivalen ermordet. Blenden war eine sehr beliebte Methode; das, und langsame, gliedweise Zerstückelung, und Verhungernlassen.
Wenn der Professor nicht so zimperlich gewesen wäre, hätte Tony über die Ermordung des byzantinischen Kaisers
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