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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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flachen Mulden des Backblechs und schiebt es in den Backofen. »Der Krieg war eine seltsame Zeit«, sagt sie. »Jeder hat mit jedem gebumst, die Leute sind einfach durchgedreht! Die Männer dachten, sie würden bald sterben, und die Frauen dachten dasselbe. Die Leute konnten sich nicht daran gewöhnen, wieder normal zu werden, hinterher.«
    Kriege sind Tonys Territorium. Sie weiß das alles, sie hat davon gelesen. Seuchen haben dieselbe Wirkung: eine Panik, eine Treibhausatmosphäre, eine Art gieriger Hysterie. Aber sie findet es unfair, daß diese Bedingungen auf ihre eigenen Eltern zutreffen sollen. Sie hätten eine Ausnahme sein sollen. (Am ersten Weihnachten nach dem Verschwinden ihrer Mutter stand ihr Vater mitten im Wohnzimmer, den Arm voll mit gläsernem Christbaumschmuck; er stand vor dem kahlen Baum, wie gelähmt, ohne zu wissen, was er tun sollte. Sie hatte die Trittleiter geholt und nahm ihm nun den Schmuck sanft aus der Hand. Komm , ich häng ihn auf! Er hätte ihn sonst geworfen. Ihn an die Wand geworfen. Manchmal hielt er auf diese Weise inne, während er irgend etwas ganz Einfaches tat, so als wäre er blind geworden, oder als hätte er das Gedächtnis verloren. Oder es plötzlich wiödergefunden. Er lebte in zwei Zeiten gleichzeitig: er hängte den Weihnachtsbaumschmuck auf und jagte feindlichen Kindern eine Kugel in den Kopf. Kein Wunder also, denkt Tony. Trotz seiner zunehmend betrunkenen und zerrissenen und, ja, gewalttätigen und beängstigenden späteren Jahre, hat sie ihm mehr oder weniger verziehen. Und wenn Anthea nicht weggelaufen wäre, wäre er dann auf dem Fußboden geendet, wo sein Blut die Morgenzeitung durchtränkte? Wahrscheinlich nicht.)
    »Sie hat mich verlassen«, sagt Tony.
    »Meine hat mich verkauft« , sagt Zenia seufzend.
    »Verkauft?« sagt Tony.
    »Na ja, vermietet«, sagt Zenia. »Gegen Geld. Wir mußten schließlich leben. Wir waren Flüchtlinge. Sie hatte es vor dem Krieg bis nach Polen geschafft, aber sie sah, was kommen würde; irgendwie gelang es ihr, rauszukommen, durch Bestechung oder was weiß ich, gefälschte Papiere, oder vielleicht hat sie auch für die Wachen im Zug die Beine breit gemacht, wer weiß? Jedenfalls schaffte sie es bis nach Paris; da bin ich aufgewachsen. Die Leute aßen damals Abfälle, sie aßen Katzen! Was hätte sie tun sollen? Sie konnte keinen Job finden, der Himmel weiß, daß sie nichts gelernt hatte. Aber sie mußte trotzdem irgendwie an Geld kommen.«
    »An wen hat sie dich vermietet?« sagt Tony.
    »An Männer«, sagt Zenia. »Oh, nicht auf der Straße. Nicht an irgendwen. An alte Generäle und was nicht alles. Sie war eine Weißrussin; ich glaub, ihre Familie hatte Geld, früher – daheim in Rußland, nehm ich zumindest an. Sie behauptete, eine Art Gräfin zu sein, aber russische Gräfinnen gab’s damals wie Sand am Meer. Es gab eine Menge Weißrussen in Paris; sie waren schon seit der Revolution da. Sie sagte gerne, sie sei was Besseres gewöhnt, obwohl ich keine Ahnung habe, wann das gewesen sein soll.«
    Tony hat das nicht gewußt – daß Zenias Mutter Russin war. Sie kennt nur Zenias Geschichte der letzten Jahre; ihren Vordergrund. Ihr Leben an der Universität, ihr Leben mit West, und mit dem Mann vor ihm, und dem davor. Brutale Kerle, alle beide, die Lederjacken trugen und tranken und sie schlugen.
    Sie betrachtet den Schnitt von Zenias hohen Wangenknochen: slawisch, nimmt sie an. Dann ist da noch ihr leichter Akzent, ihre Aura hochmütiger Arroganz, ihr Anflug von Aberglauben. Die Russen haben eine Schwäche für Ikonen und solche Sachen. Es paßt alles zusammen.
    »Vermietet?« sagt sie. »Wie alt warst du denn?«
    »Wer weiß?« sagt Zenia. »Es muß angefangen haben, als ich fünf oder sechs war, vielleicht schon früher. Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, in der nicht irgendein Mann die Hand in meinem Höschen hatte.«
    Tonys Mund klappt auf. »Fünf?« sagt sie. Sie ist entsetzt. Gleichzeitig bewundert sie Zenias Offenheit. Nichts scheint Zenia in Verlegenheit zu bringen. Im Gegensatz zu Tony ist sie nicht prüde.
    Zenia lacht. »Oh, es war nicht offensichtlich, nicht zu Anfang«, sagt sie. »Alles war sehr höflich! Sie kamen zu uns und saßen auf dem Sofa – Gott, war sie stolz auf dieses Sofa, sie breitete immer einen seidenen Schal darüber, mit Rosen bestickt –, und sie sagte, ich solle mich neben den netten Onkel setzen, und nach einer Weile ging sie dann aus dem

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