Die Räuberbraut
nicht der Fall: Tony war immer noch neugierig, immer noch fasziniert, immer noch begierig auf Details; aber wenn sie Fragen stellte, fielen Zenias Antworten – obwohl gutmütig – immer eher kurz und knapp aus, und ihre Augen schweiften ab. Auch West gegenüber legte sie jetzt dieselbe zuvorkommende, aber zerstreute Haltung an den Tag. Obwohl sie ihn immer noch berührte, wann immer er ins Zimmer kam, obwohl sie immer noch kleine Schmeicheleien austeilte, kleine, lobende Bemerkungen, konzentrierte sie sich nicht mehr auf ihn. Ihre Gedanken waren woanders.
An einem Freitag im frühen April klettert Zenia mitten in der Nacht durch Tonys Fenster. Tony sieht sie nicht, weil sie schläft; aber plötzlich schlägt sie die Augen auf und fährt hoch und sitzt kerzengrade in ihrem Bett, und eine Frau, deren Kopf sich vor dem gelblichgrauen Rechteck des Fensters abzeichnet, steht in der Dunkelheit des Zimmers. Im Augenblick des Aufwachens denkt Tony, daß es ihre Mutter ist. Anscheinend ließ Anthea sich doch nicht so leicht loswerden: in einen Zylinder packen, in einen See werfen, vergessen. Sie ist zurückgekommen, um Vergeltung zu üben, aber wofür? Oder vielleicht ist sie zurückgekommen, viel zu spät, um Tony zu holen und endlich mitzunehmen, auf den Grund der tiefblauen See, wo Tony keineswegs hin will, und wie würde sie aussehen, wenn Tony das Licht anknipste? Wie sie selbst, oder wie ein aufgedunsenes Aquarell?
Eiseskälte legt sich über Tony. Wo sind meine Kleider? wird Anthea jeden Augenblick sagen, aus ihrem gesichtslosen Gesicht heraus. Sie meint ihren Körper, der verbrannt wurde, der ertrunken ist. Und was kann Tony darauf antworten? Es tut mir leid , es tut mir leid.
Das alles spielt sich wortlos ab. Das, was Tony erlebt, ist eine komplexe Woge aus Erkennen und Grauen, Schock und Mangel an Schock: das ganze Paket eben, das in seiner Gesamtheit auftaucht, wenn unausgesprochene Wünsche wahr werden. Sie ist zu gelähmt, um zu schreien. Sie stößt ein Ächzen aus und schlägt beide Hände vor den Mund.
»Hi«, sagt Zenia leise. »Ich bin’s.«
Eine Pause, in der Tony sich einigermaßen fängt. »Wie bist du hier reingekommen?« fragt sie, als ihr Herz wieder unhörbar ist.
»Durchs Fenster«, sagt Zenia. »Ich bin die Feuerleiter hochgeklettert.«
»Die ist doch viel zu hoch«, sagt Tony. Zenia ist zwar groß, aber nicht groß genug, um die untere Plattform erreichen zu können. Ist West dort unten, hat er sie hochgehoben? Tony streckt die Hand aus, um die Nachttischlampe anzuknipsen, überlegt es sich dann aber anders. Sie darf um diese nachtschlafende Zeit keinen Besuch in ihrem Zimmer haben, und Hausmütter und andere Wichtigtuer schleichen ständig durch die Flure, um Zigarettenrauch und verbotenem Sex auf die Schliche zu kommen.
»Ich bin auf den Baum geklettert und habe mich von einem Ast rübergehangelt«, sagt Zenia. »Jeder Idiot könnte das. Du solltest dir wirklich ein Schloß ans Fenster machen lassen.« Sie setzt sich im Schneidersitz auf den Boden.
»Was ist los?« sagt Tony. Irgend etwas muß los sein: nicht einmal Zenia würde nur aus Lust und Laune mitten in der Nacht durch fremde Fenster klettern.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagt Zenia. Die beiden flüstern fast. »Ich mußte unbedingt mit dir reden. Ich hab wegen dem armen Professor Welch so ein schlechtes Gefühl.«
»Was?« sagt Tony. Sie versteht nicht.
»Weil wir ihn beschummelt haben. Ich finde, wir sollten es ihm sagen. Immerhin war das, was wir getan haben, eine Fälschung«, sagt Zenia nachdenklich. Sie spricht von dem Referat, auf das Tony soviel Zeit und soviel großmütige Sorgfalt verwendet hat. An der Arbeit selbst war nichts Unehrliches: das einzig Unehrliche war Zenias Name darauf.
Jetzt will Zenia gestehen, und damit ist für Tony alles aus. Viele große wenn auch schattenhafte Möglichkeiten warten auf Zenia – Journalismus, Hochfinanz, sogar die Politik, von allen war die Rede –, aber ein Lehrauftrag an einer Universität gehörte nie dazu; während genau das für Tony das einzige ist. Es ist ihre Berufung; ohne diese Berufung wäre sie so nutzlos wie eine amputierte Hand. Was sonst kann sie schon tun? Wo sonst kann sie ihren Hausierersack voller Wissen, kann sie die wunderlichen Schnipsel und Reste und Fetzen, die sie sammelt wie Wollflusen, gegen einen ehrlichen Lebensunterhalt eintauschen? Ehrlich ist das Schlüsselwort. Ihrer intellektuellen Ehrlichkeit beraubt, ihres Rufs, ihrer Integrität,
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