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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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entscheiden.«
    »Was war mit deinem Vater?« fragt Tony.
    Zenia lacht. »Mit was für einem Vater?«
    »Na ja, du mußt schließlich einen gehabt haben«, sagt Tony.
    »Viel besser«, sagt Zenia. »Ich hatte drei! Meine Mutter hatte mehrere Versionen – ein unbedeutendes Mitglied der griechischen Königsfamilie, ein General der polnischen Kavallerie, ein Engländer aus guter Familie. Sie hatte ein Foto von ihm, nur ein Mann – aber drei Geschichten. Die Geschichte wechselte, je nachdem, in welcher Stimmung sie war; aber in allen dreien starb er im Krieg. Sie zeigte mir wo, auf der Karte; ein anderer Ort, ein anderer Tod für jeden von ihnen. Bei einem Reiterangriff gegen deutsche Panzer; bei einem Fallschirmabsprung hinter den französischen Linien; in einem Palast von einer Maschinengewehrsalve niedergemäht. Wenn sie es sich leisten konnte, stellte sie eine Rose vor das Foto; manchmal zündete sie eine Kerze an. Weiß der Himmel, wessen Foto es in Wirklichkeit war! Ein junger Mann in einer Jacke, mit einem Rucksack, ein bißchen unscharf, Blick über die Schulter nach hinten in die Kamera; nicht mal in Uniform. Aus der Zeit vor dem Krieg. Vielleicht hat sie’s gekauft. Ich persönlich glaube, daß sie vergewaltigt wurde, von einer Horde Soldaten oder was weiß ich, und daß sie mir das nicht sagen wollte. Es wäre zu hart für mich gewesen – zu wissen, daß mein Vater so einer war. Aber es würde passen, findest du nicht? Eine Frau ohne Geld, auf der Flucht von Ort zu Ort, ganz allein – ohne Schutz. Solche Frauen waren Freiwild! Oder vielleicht hatte sie auch einen Nazi-Liebhaber, irgendeinen deutschen Schlägertypen. Wer weiß das schon? Sie war eine ziemliche Lügnerin, von daher werd ich’s wohl nie erfahren. Egal, sie ist tot.«
    Tonys eigene kleine Geschichte ist beträchtlich geschrumpft. Im Vergleich zu Zenias Geschichte scheint sie banal zu sein, belanglos, grau, typisch Vorort; eine leidenschaftslose, provinzielle Episode; eine Fußnote. Während Zenias Leben funkelt – nein, strahlt, im fahlen wenn auch ungewissen Licht, das große und bedeutungsschwere Weltereignisse werfen. (Weißrussen!)
    Bis jetzt hat Tony immer gedacht, Zenia sei ganz anders als sie selbst, aber jetzt sieht sie auch die Ähnlichkeiten, denn sind sie nicht beide Waisen? Beide mutterlos, beide Kriegsbabys, die sich allein durch die Welt schlagen müssen, tapfer weiterstapfen, ihren kleinen Korb über dem Arm, den Korb mit ihrer kläglichen, weltlichen Habe -  je einem Gehirn für jede von ihnen, denn was sonst haben sie, auf das sie sich verlassen könnten? Sie bewundert Zenia sehr, nicht zuletzt deswegen, weil sie so kühl bleibt. In diesem Augenblick zum Beispiel, in dem andere Frauen vielleicht weinen würden, lächelt Zenia – lächelt Tony an, mit einem Hauch von Spott vielleicht, den Tony als Ausdruck rührender Tapferkeit interpretiert, als unbeugsamen Mut im Angesicht eines feindseligen Schicksals. Zenia hat Entsetzliches durchgemacht und ist siegreich daraus hervorgegangen. Vor ihrem inneren Auge sieht Tony sie auf einem Pferd, mit fliegendem Umhang, den Schwertarm hochgereckt; oder als Vogel, einen silbernen, wundersamen Vogel, der sich triumphierend und unversehrt aus der Asche eines brennenden und ausgeplünderten Europa erhebt.
    »Immerhin hat es auch was Gutes, Waise zu sein«, sagt Zenia nachdenklich und stößt Rauch aus ihren perfekt geformten Nasenlöchern. »Man muß keine hohen Erwartungen anderer Leute erfüllen.« Sie trinkt den Rest ihres Kaffees, drückt ihre Zigarette aus. »Man kann sein, wer man sein will.«
    Tony sieht sie an, sieht in ihre blauschwarzen Augen, und sieht ihr eigenes Spiegelbild: sieht sich selbst, so wie sie sein möchte. Tnomerf Ynot. Sie selbst von innen nach außen gekehrt.

25
    Was kann Tony unter den gegebenen Umständen verweigern? Nicht sehr viel.
    Geld jedenfalls nicht. Zenia muß leben – Zenia, und natürlich auch West –, und wie sollen sie das machen, wenn Tony, wohlversorgt mit dem Reichtum der Toten, Zenia nicht von Zeit zu Zeit den einen oder anderen Zwanziger leiht, den einen oder anderen Fünfziger, den einen oder anderen Hunderter? Und wie bitte soll Zenia das Geld zurückzahlen, da die Dinge nun einmal stehen, wie sie stehen? Sie hat eine Art Stipendium, zumindest hat sie etwas Ähnliches durchblicken lassen, aber es reicht natürlich hinten und vorne nicht. In der fernen Vergangenheit hat sie sich den Weg durch Europa und über den Ozean erschnorrt und bis

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