Die Raffkes
alter Herr mit viel Verständnis für die Irrungen und Wirrungen der Seele. Glaube ich jedenfalls.« Er nahm ihr die Karte nochmal ab. »Ich schreibe Ihnen seinen Namen auf die Rückseite. Da steht meine private Adresse, Sie können mich abends oder am Wochenende zu Hause erreichen. Würden Sie mir ein Taxi bestellen?« »Natürlich.« Sie wählte schnell und ohne nachzudenken eine Nummer. »Stralauer 13«, sagte sie knapp und Mann dachte, sie fährt oft Taxi, sie spart nicht am Fahrpreis. »Was werden Sie denn in diesem Protokoll über mich berichten? Dass ein Rasierpinsel in meinem Bad steht?« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mann, dass sie kokettieren wollte, aber dann erkannte er in ihren Augen bitteren Ernst. Sie weiß etwas, dachte er, sie weiß etwas ganz Entscheidendes. »Ich möchte wissen, vor wem oder was Sie Angst haben«, sagte er. »Und ich werde schreiben müssen, dass Sie den Namen Ihres geheimnisvollen Freundes nicht verraten wollen.« Er grinste. »Sie sind wie mein Schützling Kemal, der in einer Nacht achtunddreißig Autos mit einem Hammer öffnete, nichts klaute und behauptete, er sei dazu gezwungen worden. Wahrscheinlich haben Sie Angst, dass dieser Dreher erfährt, mit wem Sie sich treffen wollten.« »Nicht die Spur!«, entgegnete sie sofort. »Nun gut. Ich bin Staatsanwalt, mit mir spielt man keine Spielchen. Also danke ich Ihnen nicht für Ihre Offenheit, aber ich danke, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Er drehte sich um und ging durch den kleinen Flur auf die Wohnungstür zu. »Darf ich eine Frage stellen?«, rief sie hinter ihm her. »Nur zu«, sagte er, seinen Schritt verlangsamend. »Wen wollten Sie im Francucci’s treffen?« »Einen Mann namens Walter Sirtel. Kennen Sie ihn?« »Selbstverständlich«, antwortete sie. »Der turnte dauernd in meinem Büro herum. Erstellte rechtliche Gutachten für uns. Der gehörte sozusagen zur Familie.« Mann drehte sich schnell zu ihr um. »Und? Haben Sie ihn gesehen?« »Ja, klar«, nickte sie. »Aber Sie haben vorhin gesagt, dass Sie keinen der anderen Gäste des Lokals kannten … Haben Sie miteinander gesprochen, haben Sie sich gegrüßt?« »Nein, er hat mich nicht bemerkt. Warum waren Sie mit ihm verabredet?« »Das weiß ich nicht, Sirtel hatte um diese Treffen gebeten. Ohne nähere Angabe von Gründen. Und jetzt gute Nacht, oder besser: guten Morgen.« Er öffnete die Tür und dachte verärgert: Ich muss mit Ziemann über diese Frau reden. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich weiß nicht, welchen. Der Taxifahrer wartete schon. »Grunewald, bitte«, sagte Mann. »Hubertusbader Straße.« Das gelbe zweigeschossige, spitzgieblige Haus aus
den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts wirkte wie immer vollkommen unberührt von den Zeitläufen. Tante Ichen nannte es respektlos: »Stammsitz einer total bekloppten Familie.« Als er vor dem Haus stand, empfand er Scham. Da fahre ich nach so einer gottverdammten Nacht hierher. Als sei das selbstverständlich. Als hätte ich keine eigene Wohnung. Tante Ichen hat das natürlich gewusst. Er kämpfte mit der Versuchung, Katharina anzurufen und ihr irgendeinen Blödsinn zu erklären. Dringende Konferenz, Unklarheiten am Tatort, Besprechung mit dem Bundeskriminalamt. Die große, schwere Eichentür fiel sanft hinter ihm zu und er war zu Hause in der Stille, die er über alles liebte, mit der er aufgewachsen war und die ihm so vertraut war, keine Unklarheiten barg. Er machte kein Licht in der Halle. Aus der Küche drang eine funzelige Helligkeit, über der Anrichte brannte die kleine Lampe. Da stand ein großer weißer Teller mit Melonenscheiben und Schinken. Daneben lag ein Zettel: John hat dir eine Kleinigkeit angerichtet. Dein Zimmer ist gemacht, der Tee steht neben dem Bett. Schlaf erst einmal. T. I. Er zog sich aus, ging unter die Dusche und ließ lauwarmes Wasser über seinen Körper laufen. Dann trank er Tee, den Tante Ichen aus zahllosen Kräutern selbst zusammenmischte und von dem sie behauptete, er bringe alles in Ordnung, Ruhe für den Körper und, natürlich, für den Geist. Aber der Tee wirkte nicht, Mann fiel in einen unruhigen Schlaf, sah immer wieder die deformierten Köpfe der beiden Jungen, die zerrissenen Leiber der Menschen, das geisterhaft bleiche Gesicht von Marion Westernhage auf den weißen Bodenfliesen in der Toilette. Er schreckte hoch und starrte aus den Fenstern, sah den Tag kommen, hörte den Gesang der Vögel. Mann versuchte gar nicht mehr, noch einmal
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