Die Raffkes
einzuschlafen. Als es neun Uhr war, rief er Ziemann an. »Ich war heute Nacht tatsächlich noch bei der Westernhage. Ich habe das Gefühl, sie war nicht zufällig im Francucci’s . Ich meine, sie kannte diesen Sirtel sehr gut, der arbeitete für diese Bankgesellschaft. Sie selbst sitzt im Vorzimmer des Vorstands.« »Hast du den Eindruck, sie war in dem Laden, weil auch Sirtel dort war?«
»Ja, möglicherweise. Gleichzeitig klingt das irgendwie irrsinnig.«
»Das ist überhaupt nicht irrsinnig«, sagte Ziemann sanft. »Das könnte durchaus eine Spur sein. Können wir uns treffen? Hackesche Höfe um elf, in zwei Stunden also. Dort befindet sich im zweiten Durchgang ein kleines Café.«
»Ich habe die Protokolle noch nicht fertig.«
»Die brauchen wir nicht. Jedenfalls nicht jetzt. Also, bis später.«
Mann duschte wieder, weil er noch immer das Gefühl hatte, schmutzig zu sein. Im Kleiderschrank fand er Unterwäsche, Hemden, eine Jeans und eine alte Lederjacke. Tante Ichen sorgte dafür, dass er jederzeit von einer Minute zur anderen in diesem Haus wohnen konnte. Ein wenig ärgerte ihn diese Erkenntnis.
Es klopfte behutsam, und als Mann »Ja« sagte, stand John auf der Schwelle. Auf ihn traf der wunderbare Satz von Raymond Chandler zu, der einmal in einem Brief geschrieben hatte: Ich bin ein kleiner Mann und mein Haar wird schnell grau . Wie alt John war, wusste niemand so ganz genau. Mann schätzte ihn auf fünfundsiebzig, während Tante Ichen behauptete, er müsse über achtzig sein. Der Familiensage nach hatte Tante Ichen ihn irgendwo in Ostfriesland aufgegriffen, als sie eine Panne mit dem Auto hatte. Seitdem diente er ihr mit viel Stolz und Würde. Doch ein Butler war er nicht, er hatte das Dienen nie gelernt.
»Guten Morgen, mein Junge. Deine Tante sagt, sie möchte mit dir frühstücken.«
»Ich komme«, sagte Mann. »Ist sie gut drauf?«
»Ihre Königliche Hoheit hat heute Morgen schon gelächelt. Sie ist gesund und munter.«
»Kannst du mich später zu den Hackeschen Höfen fahren?«
John antwortete, was er in solchen Fällen immer antwortete: »Sofern deine Tante nichts anderes plant.« Dann verschwand er wieder.
Mann ging hinunter auf die überdachte Terrasse, die mit ausladenden Korbmöbeln möbliert war. Er sagte: »Guten Morgen!«, und drückte seiner Tante einen Kuss auf die Stirn.
Sie saß kerzengerade und hatte einen Becher mit Pulverkaffee vor sich stehen, der Mann jedes Mal zum Husten zwang. Die kleine, magere Frau mit dem langen schlohweißen Haar trug ein blaues Kleid, bedruckt mit vielen weißen Blumen. Tante Ichens Gesicht wirkte erstaunlich jung und sanft. Im Grunde bildeten sie und John so etwas wie ein ideales Großelternpaar und Mann erinnerte sich, dass er als Kind jahrelang geglaubt hatte, dass sie ein Paar wären. Bis er entdeckt hatte, dass Tante Ichen ein sehr reges, verborgenes Liebesleben führte.
»Ich nehme an, diese Nacht war furchtbar«, sagte sie, während sie ihm einen Kaffee anrührte.
»Das war sie«, antwortete er.
»Ich habe alles aufgenommen, was im Ersten kam. Du kannst es dir angucken, wenn du magst. Du wirkst richtig exquisit. John sagt das auch. Nun iss etwas und berichte, wenn du berichten willst. Ich vermute, du hast nicht viel Zeit.«
»Das ist richtig, obwohl mir im Moment gar nicht klar ist, wo ich hingehöre. Aber Ziemann wird es wissen. Das ist der Kriminalrat, der heute Nacht für den Tatort zuständig war.«
»Deine Katharina hat übrigens angerufen. Seit sechs Uhr heute Morgen sieben Mal. Sie hat eine Stimme wie ein afghanisches Klageweib, schrecklich. Du sollst dich melden, hat sie gesagt. Und sie sei vermutlich schroff zu dir gewesen, hätte das Ganze aber nicht so gemeint. War sie schroff?«
»Na ja«, murmelte Mann. »Sie wusste ja nicht, in welcher Lage ich mich befand. Und ich war auch schroff. Kann John mich zu den Hackeschen Höfen fahren? Gegen halb elf?«
»Aber ja.« Sie setzte maliziös hinzu: »Du bist so wunderbar sanft und angepasst. Erst ist sie schroff, dann bist du schroff und anschließend ist die Welt wieder in Ordnung. Na gut. Ich fahre mit, ich muss sowieso in die Stadt. Eine Menge Amerikaner sind nach Berlin gekommen, genauso wie die Leute aus Israel, alle Sender machen eine Sondersendung nach der anderen und sie reden so viel, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sie gar nichts wissen.«
»Deine wunderbaren Genitive!«, grinste Mann. »Die Amerikaner sind selbstverständlich der Meinung, dass das Reich des Bösen
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