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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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Moment auftauchen und ihn fragen, was er da eigentlich gerade machte. Was hätte er ihr denn sagen sollen? Nachbarn konnten jeden Augenblick auf der Straße vorbeikommen, Jogger konnten stehenbleiben und ihn ansprechen.
    Beharrlich machte er weiter, steigerte sich hinein, drückte und presste, bis etwas nachgab – was genau, wollte er nicht wissen – und die Studentin endlich in seinem Fiat verstaut war. Er sah auf die Uhr und sagte sich, dass er keine Zeit verlieren durfte. Bevor er losfuhr, hupte er zwei Mal kurz – das war eines dieser seltsamen Rituale, die für Marianne und ihn im Laufe der Zeit zur Gewohnheit geworden waren und die sie beide gleichermaßen deprimierend fanden, aber dennoch beibehielten, obwohl seine Schwester schon lange nicht mehr ans Fenster kam und er den Rückspiegel keines Blickes mehr würdigte.
    Seit einigen Tagen fragte er sich, ob er nicht einen Teil seines Auspuffs oder sogar die ganze Anlage verloren hatte. Zugegeben, der Fiat 500 war noch nie ein sonderlich diskretes Auto gewesen – den Traum, dass er sich eines Tages allen Widrigkeiten zum Trotz einen Audi kaufen könnte, am liebsten einen A8, hatte er längst aufgegeben –, aber nun war es, als würde sich irgendwo ein Traktor, ein frisiertes Motorrad oder ein Düsenflugzeug in Bewegung setzen. Er würde eine Lösung finden müssen. In letzter Zeit begannen die Leute in der Stadt, sich nach ihm umzusehen, wenn er vorbeifuhr. Es dauerte wohl nicht mehr lange, bis sie ihn erwischten und vielleicht mit Waffengewalt und Handschellen auf die Wache brachten, eine Pistole an der Schläfe – achtundvierzig Stunden vorher war einer der Englisch-Dozenten mitten auf der Straße brutal zu Boden gerissen und festgehalten worden, weil er irgendwie zu viele Punkte auf seinem Führerschein hatte –, heutzutage protestierte nicht einmal mehr Human Rights Watch wegen so einer Lappalie, kein Mensch regte sich mehr über so was auf. Sonst würde Marianne ihm bestimmt schon bald zu verstehen geben, dass sie die Nase voll hatte. Darauf konnte man sich verlassen. Sie würde seine nächtlichen Streifzüge nicht mehr lange dulden – außer, er besorgte sich ein Fahrrad und fettete regelmäßig die Kette.
    Auf halbem Weg hielt er am Straßenrand hinter einem schneebedeckten Wäldchen. Die Luft war frisch, jeder Atemzug wirbelte als weißer Hauch im Sonnenlicht herum. Er nahm sich die Zeit, seine Hose hochzukrempeln. Seine Wangen waren schon gerötet. Von denen seiner Mitfahrerin konnte man das nicht behaupten. Bevor er sich ihrer annahm, rief er seine Mails ab. Vergewisserte sich, dass nicht über Nacht ein Kontinent ausgelöscht oder von einem Virus infiziert worden war, aber die Zeitungen meldeten nichts dergleichen. Schönes Wetter stand auf dem Programm, kalt und trocken, das übliche Gemetzel da und dort.
    Er nickte kurz und rüstete sich innerlich für den Aufstieg. Der Pfad war steil, schwer zugänglich und kaum passierbar, einige Wegstücke verlangten großes Geschick. Er würde patschnass, atemlos und von kaltem Schweiß überströmt oben ankommen und etwas zerknitterter und unordentlicher vor seine Studenten treten, als ihm lieb war – aber es lief eben nicht immer alles wunschgemäß, man musste sich den Geschehnissen anpassen.
    Die Studentin hatte sich graublau verfärbt, dabei war es nicht einmal besonders kalt. »Was für ein Elend«, grübelte er wehmütig, als er sich über sie beugte, um sie unter den Achseln zu packen. Was für eine Tragödie, man durfte gar nicht darüber nachdenken. So jung und schon dahingerafft. Wie absurd das war, wie himmelschreiend. Und wie übel man auch ihm dabei mitspielte. Wie konnte man ihm das antun, dieses arme Mädchen unter seinem Dach, in seinem Bett hopsgehen zu lassen. Warum hatte man nicht gleich noch einen draufgesetzt und ihm einen Dolch in die Hände gelegt? Es war wirklich mies. Er verzog das Gesicht und lud sie sich auf die Schultern.
    Marianne und er hatten diese Felsspalte zufällig entdeckt, als er einst plötzlich fast hineingefallen wäre. Er hatte über dem Abgrund gehangen, über einem tiefen Loch, das gut versteckt in einem vermoosten Steilhang klaffte, und verdankte sein Leben einzig und allein seiner Schwester, die ihn gepackt und mit aller Kraft hochgezogen hatte. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, hatten sie sich noch einmal zitternd über den Schlund gebeugt, dessen Rachen sich im Boden öffnete und der leicht auch einen Ochsen oder ein Pferd verschluckt

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