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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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vermisste. Dieser große Bruder hätte zumindest sein Leid geteilt, hätte das Leben leichter gemacht und – wer weiß? – alles Weitere verhindert. Wie oft hatte er von ihm geträumt? Wie oft hatte ihn der Gedanke an diesen Bruder am Leben erhalten – wenn er am Boden zerstört, schlimm zugerichtet, gedemütigt, ohne Essen oder völlig niedergeschmettert war?
    Schon beim Gedanken an diesen Bruder hellte ein freundliches Lächeln sein Gesicht auf, während die Flammen an den Wänden zu tanzen begannen.
    Marianne zündete einige neue Räucherstäbchen an. Zum Glück war er mit den Gedanken voll und ganz bei einer anderen Frau, denn als sich seine Schwester wieder aufs Sofa legte, präsentierte sie dem Publikum den aufreizenden Anblick ihres Slips – elfenbeinfarben und seidig glänzend. Zum Glück dachte er ausschließlich an eine andere Frau, während Marianne ihre schamlose, mehr oder weniger unschuldige Pose beibehielt – mit ihren langen, nackten Beinen, ihren weißen Schenkeln, ihrem halb hochgezogenen Rock, den weichen Schwaden beißenden Rauchs, die sie träumerisch in die Luft fächelte.
    »Ich weiß, wie ich an eine neue kommen kann.«
    »Wirklich? Wovon sprichst du?«
    »Von der Marienstatue. Ich kaufe eine neue, okay?«
    »Sehr gut. Nimm gleich zwei.«
    *
     

Alkohol lockte Studenten an, und Richard hatte ihnen versprochen, dass die Bar gut bestückt sein würde – ebenso wie er den Lehrkräften gepflegtes Essen versprochen hatte, ein Fernbleiben wäre unverzeihlich.
    Jeder Fachbereichsleiter, der eine Party organisierte, konnte in der Regel sicher sein, dass er nicht allein dasaß, aber er ging noch weniger Risiko ein, wenn sich der Direktor mitsamt seiner Frau die Ehre gab, seinen Champagner trank und sein Grillfleisch verschlang. Richards Garten war ziemlich gut gefüllt. Der Kerl hatte einen schönen Frühlingstag erwischt, und sein Grill brummte – zumindest hatte der Typ ein Händchen dafür, Würstchen und Hähnchenbrust zu braten.
    Es war warm, die Frauen trugen Sandalen. Marianne und er trafen ein, als Richard gerade eine neue Ladung Fleischspieße auflegte.
    »Ich freue mich sehr, dass Sie da sind, Marc, Sie und Ihre Schwester. Ich hoffe, Sie wissen das. Ich hoffe, wir verstehen uns da nicht falsch.«
    »Nein, alles in Ordnung. Was empfehlen Sie mir? Nichts allzu Fettiges, wenn’s geht.«
    »Ich habe genau das Richtige für Sie. Probieren Sie das hier.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Kommen Sie doch mal her, Marc, ich möchte Ihnen etwas sagen. Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?«
    »Nein, Richard, lieber nicht. Ich sage es Ihnen lieber rundheraus. Ich möchte nicht, dass mir irgendjemand Geheimnisse anvertraut, egal wer. Nehmen Sie es nicht persönlich. Das ist eine Verantwortung, die ich nicht tragen will. Ich bin Schlafwandler. Fragen Sie Marianne. Ich spreche im Schlaf. Ich laufe herum und ich spreche. Ganz einfach. Wenn es um Vertraulichkeiten geht, klopfen Sie nicht bei mir an, tut mir leid. Als Vertrauensperson bin ich wertlos.«
    Hinter ihnen lachten ein paar Dozenten schallend, als einige ihrer kleinen Kinder sich Grimassen schneidend mit Wasserpistolen bekämpften. Richard lächelte und drehte ein paar Koteletts um.
    »Marc, ich wollte Ihnen einfach nur sagen, dass ich es sehr schätze, dass Sie gekommen sind. Wissen Sie, ich bin mir bewusst, wie sehr Sie sich bemühen. Ich versetze mich in Ihre Lage. Ich habe nie eine Schwester gehabt, aber ich versuche, mich in Ihre Lage zu versetzen.«
    »Das ist nett von Ihnen. Das tröstet mich. Ziemlich gelungen, Ihre kleine Party. Sie haben nicht zufällig englischen Senf da?«
    Ein halbes Dutzend Studenten, die mehr oder minder zwangsverpflichtet worden waren, eilten mit Essen und Trinken von einer Gruppe zur nächsten und achteten darauf, dass die Kinder, die überall herumrannten, nicht das Haus verwüsteten, den Gashahn öffneten, sich in einem Wandschrank einschlossen oder ein Feuer legten – Richard wusste seine Stellung zu nutzen und hatte keinerlei Probleme, Arbeitskräfte aufzutreiben. Annie Eggbaum war auch dabei. Er bemerkte sie erst, als er mit ihr zusammenstieß, denn ihr Weg kreuzte sich zwischen zwei Tischen. Sie blieben kurz aneinander hängen.
    »Ach, Annie, Sie sind’s?«, sagte er und achtete auf seine Hände.
    Ihr Gesicht verfinsterte sich.
    Als er sich ein wenig später aus einer Gruppe von Leuten wegstahl, die wegen des Tragens von Kopftüchern in der Schule das Europäische Parlament anrufen wollten, baute sie

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