Die Rebellen von Irland
Gesichter auf dem Hügel und sogar für die Briten erfasste ihn. Schließlich waren sie alle seine Mitmenschen. Wie schrecklich, dass am folgenden Tag wahrscheinlich viele sterben mussten. Was für ein Jammer, dass so viel Blut vergossen und so viele Opfer gebracht werden mussten, um in Irland eine neue Gesellschaft zu schaffen.
Dass das neue Irland kommen würde, daran zweifelte er nicht. Nicht wegen des gegenwärtigen Aufstands, dessen Ausgang noch ungewiss war, sondern weil die ganze Entwicklung sich nicht mehr aufhalten ließ. Überall auf der Welt wurden die Tyrannen verjagt und die Fesseln gesprengt, die Körper und Geist gefangen hielten. In Amerika und Frankreich konnten die Menschen ihre Regierungen jetzt selbst wählen, sich ihre eigenen Gesetze geben und nach Belieben eine Religion ausüben oder nicht. Endlich würde es keine Unterdrücker und Unterdrückte mehr geben, keinen Streit zwischen Katholiken und Protestanten. Das Zeitalter der Vernunft war angebrochen, und es bedurfte gewiss nur noch eines letzten Anstoßes und das morsche staatliche Gefüge würde von selbst zusammenbrechen. Patrick war dankbar dafür, dass er die Heraufdämmerung der neuen und besseren Welt miterleben durfte.
Eine bessere Welt auch für seine Kinder. Gerührt dachte er an sie. Vor fast einem Monat hatte er sie zuletzt gesehen. Er wünschte sich Flügel. Dann wäre er durch die Nacht geflogen und hätte eine Stunde mit ihnen verbracht und sie getröstet. Auch an Brigid dachte er. Irgendwann würde alles vorbei und die Welt verändert sein. Dann würde er Brigid noch einmal fragen, ob sie ihn heiraten wollte, aber diesmal mit mehr Nachdruck. Vielleicht würde sie seinen Antrag diesmal annehmen.
Eine seltsame Stimmung erfasste ihn. Ihm war, als hätte die Abendsonne den Hügel mit ihrem orangefarbenen Licht gleichsam der Zeit entrückt und an einen anderen Ort versetzt – und als warteten auf dem Hügel Tausende von Menschen wie eine Versammlung aus grauer Vorzeit darauf, die aufgehende Sonne im Osten zu begrüßen.
***
General Lake wartete nicht bis zum Sonnenaufgang. Er war ein brutaler Mensch. Im Frühjahr hatte er in Ulster haufenweise Rebellen gehängt oder auspeitschen lassen, um ihren Widerstand zu brechen. Zugleich war er ein tüchtiger Feldherr. Im Angesicht der doppelt so starken gegnerischen Armee, die sich auf einem runden Hügel verschanzt hatte, tat er, was jeder gute Feldherr getan hätte: Er besann sich auf seine Stärken.
Er stellte seine Kanonen so nahe am Hügel auf wie möglich und wartete nicht auf den Morgen, nicht einmal auf das erste Morgengrauen im Osten. Dass die Verteidiger so viele waren, gereichte ihnen jetzt zum Nachteil, weil sie den Hügel so dicht bedeckten, dass der General nicht einmal besonders genau zielen musste. Er ließ die Kanonen mit Kugeln und Kartätschen laden. Die erste Salve krachte durch die Nacht.
»Ich schieße die Rebellen im Dunkeln zusammen«, sagte der General.
***
Kelly und Patrick standen nebeneinander und erschraken beide. Zischend flogen die Kanonenkugeln über ihre Köpfe. Erdfontänen stiegen zum nächtlichen Himmel auf und überall brach Geschrei aus.
»Will er uns wirklich im Dunkeln angreifen?«, fragte Kelly verwundert.
Doch das wollte General Lake keineswegs. Er rückte keinen Zentimeter vor, sondern ließ seine Kanonen die Arbeit für ihn tun. Die Kanonen spuckten die ganze Nacht Feuer, bis der Morgen dämmerte und die Sonne aufging. Sie wussten nichts von Freiheit, von grauer Vorzeit oder dem Anbruch eines neuen Zeitalters, sondern folgten nur ihrer eigenen unerbittlichen Logik der Verwüstung und Vernichtung, bis der ganze Hügel mit Kratern übersät war und Blut über seine grünen Flanken lief.
Die englische Artillerie konnte mit noch einer weiteren Überraschung aufwarten. Patrick sah mit eigenen Augen, wie etwa fünfzig Meter vor ihm eine Granate landete, noch ein Stück über den Boden sprang und neben einer Gruppe von Pikenieren liegen blieb. Die Pikeniere betrachteten die Granate misstrauisch. Dann zuckte ein greller Blitz auf und sie wurden zerrissen. Die mit dem neuen Verzögerungszünder ausgestattete Granate war explodiert. Die Iren kannten solche Granaten noch nicht. Schon bald brach auf dem Hügel Panik aus. Überall versuchten Männer überstürzt vor Granaten zu fliehen, die in ihrer Nähe landeten.
Es gab nur einen Ausweg. Die Rebellen mussten angreifen, um die Engländer mit dem schieren Gewicht ihrer Übermacht aus den Stellungen
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