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Die Rebellen von Irland

Die Rebellen von Irland

Titel: Die Rebellen von Irland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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auf dem Land zu bleiben. Eamonn war erst zwanzig, als er heiratete, und wer wusste, wie viele Kinder er bekommen würde? Selbst ein armer Cottier mit einer bescheidenen Parzelle konnte überleben. Als Folge davon war die Bevölkerung Irlands enorm gewachsen. Ihre Zahl lag mittlerweile bei über sieben Millionen, und sie stieg weiter. Irland gehörte zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas. Da so viele ernährt werden mussten, stiegen zwangsläufig auch die Preise für Lebensmittel und Grundstücke. »Der Grundbesitzer kann einen höheren Pachtzins für sein Land bekommen, und die reicheren Bauern können ihn bezahlen«, erklärte Eamonn Maureen. »Wir haben noch Glück, aber etliche arme Cottiers können kaum noch ihren Zins aufbringen.« Wer ihn nicht aufbringen konnte, wurde von seinem Land vertrieben und musste als Tagelöhner sein Dasein fristen. In den Elendsvierteln von London oder in den Dubliner Liberties waren Arme längst ein gewohntes Bild. Aber nun war auch in den ländlichen Gebieten Irlands ein neues Phänomen zu beobachten: Elendsquartiere der entwurzelten Armen.
    In Ennis begannen sie etwa eine Meile vor der Stadt. Da sah man Katen mit Dächern, aber auch offene Erdhütten, die einfach in die Böschung gebaut waren. Manche Familien konnten wenigstens für ein Jahr einen kleinen Kartoffelacker pachten, andere hatten nicht einmal das. Sie nahmen jede Arbeit an. Nur gab es nicht immer welche. An jeder Straße, die nach Ennis führte, bot sich das gleiche Bild. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeifuhren und Maureen die unglücklichen Gesichter der zerlumpten Männer, Frauen und Kinder sah, schauderte sie.
    »Kann das auch mit uns geschehen?«, hatte sie einmal, als sie fünf war, ihren Vater gefragt.
    »Niemals«, antwortete er selbstbewusst.
    »Können wir ihnen nicht helfen?«
    »Es sind so viele.« Er lächelte milde. »Aber es freut mich, dass du es möchtest.«
    Der Anflug von Resignation in seiner Stimme hatte sie erschreckt. Bis dahin hatte sie immer geglaubt, ihr Vater könnte alles. Er wusste, dass sie ihm jedes Mal, wenn sie zusammen in die Stadt fuhren, so lange in den Ohren lag, bis er den Kindern am Straßenrand ein paar Pennys gab. Doch wenn sie es auch nie aussprach, die armseligen Hütten waren der Grund, warum sie gewöhnlich den Kopf schüttelte, wenn er sie fragte, ob sie mit in die Stadt wolle. Letztes Jahr hatte sie jedoch eine andere Frage gestellt: »Kann denn Daniel O’Connell etwas für sie tun?« Die Miene ihres Vaters hatte sich ein wenig aufgehellt.
    »Vielleicht.« Er hatte genickt. »Wenn es überhaupt jemand schafft, dann O’Connell.«
    Deshalb stimmte es sie jetzt traurig, dass ihre Eltern zum ersten Mal, seit sie denken konnte, miteinander stritten und dass der Grund ihres Streits Daniel O’Connell war.
    Sie hatte ihn einmal gehört. Ihr Vater hatte sie mitgenommen, ihre Mutter hatte nicht gewollt. Der große Mann war aus seiner Heimat in den Bergen von Kerry gekommen und sprach zu einer riesigen Menschenmenge, die sich auf einer Wiese bei Limerick versammelt hatte. Er stand auf einem Wagen. Sie und ihr Vater bekamen nur einen Platz ziemlich weit hinten, aber sie konnten ihn trotzdem gut sehen, denn er war sogar noch größer als Eamonn, ein Mann mit einem breiten, fröhlichen Gesicht und langen, gewellten braunen Haaren.
    Er sprach auf Irisch und Englisch zu ihnen. Tatsächlich wechselte er, wie viele Leute in dieser Gegend, mühelos von einer Sprache in die andere und vermischte sie manchmal sogar. Maureen begriff nicht alles, was er sagte, aber die Menge brüllte zustimmend. Am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben war ihr allerdings nicht, was er sagte, sondern wie er es sagte, der wunderbar melodische Klang seiner Stimme, die mal ganz leise wurde, mal zu donnernder Lautstärke anschwoll. Und wenn er die Stimme senkte, wurde es in der Menge mucksmäuschenstill, sodass man jedes Wort verstehen konnte. »Er besitzt die Stimme eines Engels«, hatte ihr Vater einmal gesagt und beifällig hinzugefügt: »Und die List eines Teufels.«
    Seit nunmehr dreißig Jahren verteidigte O’Connell als brillanter Anwalt Katholiken gegen die protestantische Vorherrschaft – die Ascendancy. Doch der Anwaltsberuf diente ihm nur als Broterwerb. Seine eigentliche Begabung lag auf dem Gebiet der Politik. Vor fünf Jahren hatte er mit einer Gruppe Gleichgesinnter die Katholische Vereinigung gegründet. Früher hatte es Komitees katholischer Gentlemen oder die Patrioten gegeben, die

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