Die Rebellen von Irland
Auffassungsgabe. Er hatte sich vom Kanzleigehilfen zum Wahlkampfagenten emporgearbeitet und dabei seine politische Begabung unter Beweis gestellt. Im letzten Jahr hatte er so viele Leute beeindruckt, dass William Mountwalsh von ihm erfuhr und ihn zu sich einlud. Anscheinend war auch der Earl von ihm beeindruckt, und möglicherweise hatte er dem jungen Mann mehr Beachtung geschenkt, als dieser eigentlich verdiente, nachdem er festgestellt hatte, dass sie durch familiäre Bande verbunden waren.
»Wenn Sie aus Rathconan stammen, haben Sie vielleicht die alte Deirdre gekannt, die Frau von Conall Smith?«, hatte ihn der Earl gefragt.
»Meine Urgroßmutter«, antwortete Stephen. »Ich erinnere mich kaum an sie. Sie muss also schon sehr alt gewesen sein, als ich noch ein kleines Kind war.«
»Dann kennen Sie wohl auch die Kinder meines Verwandten Patrick Walsh, der am Vinegar Hill gefallen ist?«
»In der Tat, Mylord. Ich kenne sie alle.«
Das interessierte Seine Lordschaft sehr.
»Meine Großmutter Georgiana war im Jahr vor ihrem Tod oben in Rathconan«, erinnerte er sich. »Sie hatte Patrick sehr nahe gestanden und wollte wissen, was aus seinen Kindern geworden war. Sie sagte, dass keines von ihnen nach Dublin wolle. Hätten sie es getan, hätte sie ihnen nämlich Geld gegeben, glaube ich.«
»Sie wollten mit Dublin nichts zu tun haben«, bestätigte Stephen. »Dafür dürfte die alte Deirdre gesorgt haben. Sie haben O’Tooles, O’Byrnes, Brennans und dergleichen geheiratet. Man könnte sie jetzt nicht mehr auseinanderhalten.«
»Und Brigid?«, erkundigte sich der Earl. »Wissen Sie etwas über sie?«
»Gewiss. Sie hat Deirdre mehrere Male aus Australien geschrieben. Sie hatte wieder geheiratet. Ich glaube, sie bekam noch weitere Kinder. Vor zwölf Jahren besaß sie ein kleines Gasthaus in Neusüdwales. Mehr weiß ich nicht.«
Von solchen familiären Dingen abgesehen, wollte William Mountwalsh alles über Stephens Werdegang wissen und darüber, was sich ein junger Mann seiner Generation von der Zukunft erhoffte.
»Langfristig die Aufhebung der Union und ein unabhängiges Irland«, antwortete Stephen. »Aber bis dahin ruhen unsere Hoffnungen auf der liberalen Partei der Whigs in England. Immerhin war es die Partei Sheridans. Die Whigs stehen den irischen Katholiken wohlwollend gegenüber. Was O’Connell angeht, so glaube ich, dass er mehr für uns tun kann als jeder andere Zeitgenosse.«
Stephen hatte auch erkannt, dass Seine Lordschaft nichts mehr liebte als den neuesten politischen Klatsch, und ein junger Mann, der mitten im Wahlkampfgetümmel stand, hatte immer etwas zu erzählen. Und je pikanter die Geschichte, desto besser gefiel sie dem Earl.
Aber was war mit dem Quäker? Stephen wusste nicht viel über die Quäker, aber er hegte den Verdacht, dass der Mann viel zu ernst war für seinen weltlichen Geschmack.
»Waren Sie eigentlich schon immer Quäker, Mr Tidy?«, erkundigte er sich höflich.
»Mein Vater gehörte der Staatskirche an«, antwortete Samuel Tidy, »aber meine Mutter war Quäkerin. Mein Vater starb, als ich zehn war, und mit den Jahren fühlte ich mich immer stärker zur Gesellschaft der Freunde hingezogen.« Stephen fiel erst jetzt die leicht gebeugte Haltung des kleinen Mannes auf. Sein dünnes, rotblondes Haar ließ ihn alterslos erscheinen.
»Einer aus seiner Familie arbeitete als Butler für den großen Dekan Swift und danach für keinen geringeren als den Herzog von Devonshire. Habe ich Recht?«, fragte Lord Mountwalsh.
»Der Großonkel meines Vaters«, bestätigte Tidy.
»Und was halten Sie von unserer Wahl?«, fragte Stephen.
»Mir war gar nicht bewusst«, antwortete der Quäker, »welche Wirkung O’Connell auf das breite Volk hat.«
»Er ist wie ein irischer Prinz.«
»Waren die O’Connells Prinzen?«
»Nein.« Stephen lächelte. »Aber sie haben ein kleines Vermögen gemacht.«
»Womit?«
»Mit Schmuggel«, antwortete Stephen vergnügt.
»Oh.« Der Quäker wirkte leicht schockiert.
»Die Katholiken vertrauen ihm«, fuhr Stephen fort, »weil sie wissen, dass er alles für sie tun würde. Das hat er als Anwalt bewiesen. Kennen Sie die Geschichte, wie er einen Mann verteidigte, der des Mordes angeklagt war?«
»Ich glaube nicht.«
Der Earl gab zu verstehen, dass er die Geschichte kannte, aber gerne noch einmal hören würde.
»Kein anderer wollte dem armen Teufel helfen. Also tritt O’Connell vor den Richter hin und sagt ihm ordentlich die Meinung. ›Ich kann
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