Die Rebellen von Irland
heute eine Viertelmillion Plätze mehr als früher«, sagte Tidy im Frühjahr zu seiner Frau. »Zurzeit stirbt jede Woche einer von achtzig Insassen. Das ergibt insgesamt zweieinhalbtausend Todesfälle, oder einhundertundzwanzigtausend pro Jahr. Aber wohlgemerkt nur in den Arbeitshäusern. In bestimmten Gebieten von Clare, so habe ich mir sagen lassen, sterben viermal so viele Menschen.«
»Fördern die Arbeitshäuser nicht die Ausbreitung der Seuche?«, fragte seine Frau.
»Möglicherweise. Aber viele Menschen, die ins Arbeitshaus kommen, sind ohnehin schon halb tot. Man kann den Verwaltern der Armenhäuser deshalb kaum einen Vorwurf machen. Sie haben kein Geld mehr, und die Regierung weigert sich nach wie vor, ihnen Mittel zu geben.«
Ein kleines Zugeständnis war im Februar gemacht worden. Die Regierung hatte eine Sonderzahlung von 50.000 Pfund bewilligt, was in England allerdings einen Skandal ausgelöst hatte. Die Londoner Times hatte gewettert, dass diese übertriebene Geste »der britischen Mildtätigkeit fast das Rückgrat gebrochen« habe.
»Ich habe einen Mann aus der Verwaltung der Armenfürsorge getroffen«, erzählte er wenig später, »der die Absicht hat, seinen Posten niederzulegen. Er hat mir den Brief gezeigt, den er geschrieben hat. Er erklärt darin, dass er nicht länger Handlanger einer Ausrottungspolitik sein will.«
Aber der schlimmste Moment für sie beide war, als sie eines Tages Maureen in der Küche sitzend antrafen. Vor ihr auf dem Tisch lag eine englische Zeitung, die sie am Nachmittag gekauft hatte. Auf der Seite, die aufgeschlagen war, prangte eine Karikatur. Sie zeigte eine Kartoffel, groß, schwarz und halb verfault. Aber die Kartoffel war gleichzeitig das Gesicht eines Iren, das Gesicht eines verworfenen und gierigen Menschen. In ihren verfaulten Trieben hielt die Kartoffel einen Sack Gold. Und unter dem Bild stand nur ein einziges Wort: Verdorben.
Maureen war in Tränen ausgebrochen.
In der Osthälfte der Insel war die Situation weitaus besser als im darniederliegenden Westen. Es gab sogar erste Anzeichen einer langsamen Erholung. Aber noch immer strömten Tag für Tag arme Teufel in die Hauptstadt. Und für Tidy war kein Ende abzusehen.
Unterdessen ging Stephen der Aufgabe nach, Maureen Maddens Geschwister ausfindig zu machen.
***
Es erwies sich als schwierig, Hinweise zu finden. Stephen nahm beträchtliche Mühen auf sich, da aber so viele Menschen ihre Heimat verlassen hatten, waren die Aussichten, eine Person aufzuspüren, zumal eine Frau, gering. Er begann mit Maureens älterer Schwester, die nach England gegangen war. Seit Beginn der Regierungszeit Königin Viktorias im Jahr 1837 wurden in England Geburten-, Heirats- und Sterberegister geführt. Also hatte er einen Helfer beauftragt, die Register durchzusehen. Doch sie war nirgendwo. Er versuchte es mit Anzeigen in den Städten, die am ehesten in Frage kamen, in London, Liverpool und Manchester. Bislang hatte niemand geantwortet. Was ihren Bruder William anging, so war er möglicherweise leichter zu finden, sofern er mit seinem Onkel wohlbehalten in Amerika angekommen war. Auch Nuala war spurlos verschwunden. Der Hunger hatte schon so viele namenlose Opfer gefordert, dass sie ohne weiteres gestorben sein konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nachforschungen in Wexford und Dublin verliefen ergebnislos. Doch er versuchte es weiter.
Jedes Mal, wenn er nach Dublin kam, besuchte Stephen die Tidys und nahm sich auch die Zeit, mit Maureen zu sprechen und sie über den Stand seiner Nachforschungen auf dem Laufenden zu halten. Manchmal fragte sie ihn höflich nach seinen eigenen Angelegenheiten, wo er gewesen sei, was er erlebt habe. Ihre Fragen zeugten nicht nur von Interesse, sondern auch von Intelligenz, obgleich sie sich unablässig für ihre Unwissenheit entschuldigte.
»Sie haben vermutlich mehr vom Leben gesehen als ich«, versicherte er ihr einmal.
»Ein Leben unter Bedingungen, wie wir sie ertragen mussten, ist kein richtiges Leben, denke ich«, erwiderte sie.
Das Ehepaar Tidy schien ziemlich stolz auf ihre Talente und förderte sie. Als ihm Mrs Tidy einmal ein Stück Kuchen anbot, eröffnete sie ihm: »Den hat Maureen gebacken, Stephen. Sie ist eine begabte Köchin. Überhaupt führt sie den ganzen Haushalt besser als ich.«
Selbstverständlich machte er ihr ein Kompliment wegen des Kuchens, der in der Tat köstlich schmeckte. Doch er hütete sich, zu viel zu sagen, damit sie nicht wieder errötete.
In
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