Die Rebellen von Irland
verlassen haben? Eine Dreiviertelmillion. Und in den zehn Jahren danach? Noch einmal eine Million. Und seither ist der Strom der Auswanderer nicht abgerissen. Es gibt zwei Irland: das eine in Irland, das andere in Amerika. Und in Amerika hat man die Hungersnot nicht vergessen.« Sie sah Sheridan an. »Wusstest du, dass dein Cousin Martin Madden in Boston Geld für Irland sammelt?«
»Nein.«
»Der Sohn meines Bruders William. Soweit ich weiß, hat er es zu einigem Wohlstand gebracht. Er sammelt also Geld. Und man wird in Amerika Geld sammeln und nach Irland bringen, solange in Irland Menschen leben, die von England frei sein wollen. Die Engländer mögen versuchen, die Iren in Irland mit ihrem Wohlwollen zu töten, aber mit den Iren in Amerika werden sie nie Frieden schließen.«
»Oder mit denen in Australien«, fügte Father MacGowan leise hinzu. »Aber die sind zu weit weg.«
»Wen unterstützt Martin Madden denn mit dem Geld, wenn ich fragen darf?«, sagte Sheridan Smith.
»Die Bedürftigen«, erwiderte seine Mutter in einem Ton, der keine weiteren Fragen zuließ.
»Aha.« Sheridan schlug verlegen den Blick nieder.
Der Graf betrachtete die alte Dame neugierig.
»Ich sollte nach meiner Tochter sehen«, sagte die Gräfin.
»Wir können alle etwas Ruhe gebrauchen«, sagte Sheridans Frau.
»Vielleicht«, meinte Father MacGowan. »Ich werde mir ein wenig die Beine vertreten. Kommen Sie mit, Gogarty?« Er warf Sheridan Smith beim Hinausgehen einen vielsagenden Blick zu und wies mit einem Nicken auf Willy.
»Ach ja«, sagte der Journalist, froh darüber, das Thema wechseln zu können. Er nahm Willy zur Seite.
Er bräuchte nicht viel über ihn zu wissen, sagte er zu dem jungen Mann, die Empfehlung Father MacGowans reiche vollkommen aus. Ob Willy eine Vorstellung habe, was er mit seinem Leben anzufangen gedenke? Er selbst habe es in seinem Alter auch noch nicht gewusst. »Man kann es doch erst wissen, wenn man das eine oder andere versucht hat«, ergänzte er zuvorkommend. Bei der Zeitung gebe es einige kleinere Arbeiten, bei denen ein junger Bursche sich sozusagen einen Einblick verschaffen könne. Natürlich verdiene man nicht viel. Ob Willy weiter bei seinem Onkel und seiner Tante wohnen könne? Gut. Hm. Natürlich habe Willy noch nie etwas verkauft. »Aber vielleicht stellen Sie ja fest, dass Sie das können. Ein guter Mitarbeiter von mir verkauft Anzeigenfläche in der Zeitung, vor allem an Händler und dergleichen. Anzeigen sind für eine Zeitung sehr wichtig. Sie könnten ihn eine Weile begleiten, sich einarbeiten.« Es gebe bei der Zeitung auch noch andere Arbeiten für ihn zu tun. Ob er sich das vorstellen könne?
Gewiss konnte Willy das.
»Ausgezeichnet. Kommen Sie morgen in unser Büro. Oh.« Der Journalist starrte plötzlich unverwandt zur Tür. Willy folgte seinem Blick.
Das kleine Mädchen, das soeben mit der Gräfin eingetreten war, mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Es war blass und mager, und eine Kaskade rabenschwarzer Haare fiel ihm bis auf die Schultern. Dazu kamen ein Paar grüner, smaragdgrüner Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen. Willy hatte noch nie solche Augen gesehen.
»Es geht ihr besser«, sagte die Gräfin.
»Ich habe Hunger«, sagte das Mädchen. »Guten Tag, Urgroßmutter.« Sie lief zu der alten Dame und gab ihr einen Kuss.
»Ich bin dein Großonkel Sheridan«, sagte Sheridan. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch sehr klein. Erinnerst du dich an mich?«
»Nein«, sagte das Mädchen und lächelte ihn strahlend an. »Aber jetzt weiß ich, wer du bist.« Es wandte sich an Willy. »Wer bist du?«
»Ich bin nur Willy«, sagte Willy.
»Guten Tag, Nur-Willy. Ich bin Caitlin. Ich heiße so, weil ich Irin bin.«
»Nur Caitlin?«
Caitlin lachte. »Nein, Gräfin Caitlin Birne.«
»Und ich bin Willy O’Byrne.«
»Wirklich?« Sie sah ihren Vater fragend an. »Sind wir verwandt?«
»Father MacGowan wartet draußen«, lenkte Sheridan Smith das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema. Er sah Willy an. »Er hat soeben ausrichten lassen, Sie sollten ihn nach Hause begleiten. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Tür.« Doch an der Tür hielt er Willy noch kurz auf. »Wer in Dublin unterwegs ist, begegnet allen möglichen Menschen. Man muss nicht mit allen Bekanntschaft schließen. Sie können mich immer fragen, wenn Sie wollen.«
»Danke«, sagte Willy.
Sheridan Smith nickte. »Vielleicht noch einen kleinen Rat. Aber erzählen sie niemandem
Weitere Kostenlose Bücher