Die Rebellen von Irland
Zweifel erhaben. Wenn er an ihre Güte dachte, dann wunderte er sich jedes Mal darüber, wie bescheiden sie war. Sie machte nicht viel Aufhebens um ihre guten Werke. »Ich bin eine einfache Frau, Sir«, sagte sie oft. »Ich kann nicht einmal lesen.« Darüber musste er lächeln. »Gott schätzt uns für das, was wir tun«, versicherte er ihr. Einmal hatte sie ihn sehr traurig um geistlichen Rat gebeten. Eine Bekannte aus der Stadt, eine einfache Frau wie sie selbst, die nie jemandem ein Leid zugefügt hatte, war sehr krank geworden und schien an der Schwelle des Todes zu stehen. Aber sie war Katholikin. »Sir, Ihr habt immer gesagt, dass Gott uns in Auserwählte und Verdammte eingeteilt hat.« War es vielleicht möglich, fragte sie, dass Gott in seiner unergründlichen Weisheit ihre arme katholische Freundin trotz ihrer Religion retten würde? Pincher wollte die gute Seele nicht enttäuschen und sagte daraufhin: »Gottes Wege sind unergründlich, Mrs Tidy.« Die Erleichterung auf ihrem Gesicht rührte ihn so, dass er überzeugt hinzufügte: »Aber ich kann wohl mit Sicherheit sagen, dass Sie in den Himmel kommen werden, Mrs Tidy.«
Heute brachte sie ihm einen kleinen Pflaumenkuchen mit, in den sie auch einen Tropfen Branntwein gegeben hatte. Sie hoffe, dies sei keine Sünde, sagte sie schüchtern. Er nahm den Kuchen dankbar an und erkundigte sich nach ihrer Familie. Und als sie ihm sagte, dass ihr Ehemann ihn heute mit ihrem Sohn Faithful aufsuchen wolle, antwortete er freundlich:
»Aber natürlich. Schicken Sie sie um vier Uhr zu mir.«
***
Simeon Pincher verließ das Universitätsgelände, ging durch das Tor in der alten Stadtmauer und schlenderte die Dame Street in Richtung Christ Church hinauf. Als er an einer der drei neuen öffentlichen Uhren vorbeikam, die es inzwischen in der Stadt gab, hörte er die Glocke schlagen und sah, dass es drei Uhr war. Er wandte sich nach Westen und ging durch ein anderes Tor den Hang hinunter auf die uralte Brücke über den Liffey zu. Er schätzte, dass er genug Zeit hatte, die Brücke zu überqueren und gemütlich zurückzulaufen, bevor Tidy und sein Sohn bei ihm zu Hause ankamen. Am Flussufer fiel ihm auf, dass die Brise die Wasseroberfläche zu tausend winzigen Wellen kräuselte. Pincher betrat die verlassene Brücke; die Brise wehte ihm kalt um die Wangen, und er genoss das prickelnde Gefühl auf seinem Gesicht. Nach kurzer Zeit bemerkte er, dass auf der anderen Flussseite zwei Gentlemen die Brücke betreten hatten, die wahrscheinlich auch ein wenig Bewegung suchten. Der größere Mann trug dunkelgrüne Kleidung, der kleinere rostrote. Pincher erreichte die Mitte der Brücke und näherte sich den beiden Männern. Jetzt erkannte er in dem Kleineren Thomas Wentworth. Der Lord Deputy von Irland war unverwechselbar. Er trug einen Schnurrbart und einen sauber gestutzten kurzen Kinnbart, der seinen sinnlichen, aufgeworfenen Mund nicht vollständig verbergen konnte. Seine geschwollenen Augen blitzten kämpferisch, wenn er sprach. Wenn er schwieg, blickten sie düster drein. Das dunkle, lockige Haar trug er kurz geschnitten, dennoch wirkte es ungebärdig und wild. Ein mürrischer Knabe, dem der König große Macht verliehen hat, dachte Doktor Pincher. Wentworth hatte ihn erkannt und schritt direkt auf ihn zu. Eine Begegnung ließ sich nicht vermeiden. Drei Schritte vor Pincher blieb er stehen, und sein Begleiter, ein Beamter aus der Dubliner Burg, tat es ihm nach.
»Doktor Pincher.«
Steif nickte Pincher ihm zu. Wentworth starrte ihm weiterhin unhöflich ins Gesicht. Er schien nachzudenken.
»Sie haben doch Land in Südleinster gepachtet, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hm.«
Und ohne ein weiteres Wort setzte der Lord Deputy seinen Weg fort. Der Mann in Grün folgte ihm.
Pincher war sprachlos. Er ging ein paar Schritte und blieb stehen. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber dann hätte er dicht hinter Wentworth gehen müssen. Also ging er zur anderen Seite des Liffey und wartete dort, bis Wentworth außer Sicht war. Erst dann trat er, rasend vor Wut und Frustration, den Heimweg an.
Wentworth hatte ihn beleidigt. Dem Lord Deputy war natürlich an persönlicher Bereicherung gelegen, und von einem Mann, der ein hohes öffentliches Amt bekleidete, war schließlich nichts anderes zu erwarten. Aber zum wahrscheinlich ersten Mal seit Strongbows Ankunft in Irland vor viereinhalb Jahrhunderten wollte der Stellvertreter des Königs auch die Finanzlage seines königlichen Herrn aufbessern.
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