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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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schaute auf das Bild: Sie hatte tatsächlich die Narbe vergessen! Aber war das von Bedeutung? Sie hatte ihn ja nicht nach dem Leben gezeichnet, sondern so, wie sie ihn mit ihrem Herzen sah. Sie lächelte ihn an.
    »Warum gibst du dir immer so große Mühe, böse zu sein? Es hat keinen Sinn, du hast doch gar kein Talent dafür.«
    »Bitte schau mich nicht so an«, sagte er.
    »Pssst«, machte sie und strich mit der Hand über seine Stirn.
    »Du glaubst doch selber an den großen Traum, an den Traum vom Paradies.«
    Sie sprach ganz leise, flüsterte fast, während ihre Gesichter einander immer näher kamen.
    »Was machst du nur mit mir?«, fragte er, genauso leise wie sie. Sie spürte seinen Atem, sah seine Augen, deren Blicke sie berührten wie eine Liebkosung. Plötzlich verschwand alles rings um sie her, sie waren ganz allein, die einzigen Menschen auf der Welt. Und als Emily die Augen schloss und seinen Mund auf ihren Lippen spürte, wusste sie nur, dass nichts richtiger sein konnte als dieser Augenblick, und sie erwiderte seinen Kuss, ohne Zweifel und Fragen, als wäre dieser Kuss schon immer in ihnen gewesen.

11
     
    Es war, als wäre über Nacht der Frühling angebrochen. In vierundzwanzig Stunden war die Temperatur um fünfzehn Grad gestiegen, eine milde, fast vergessene Wärme erfüllte die Luft, und die Spatzen schwirrten mit einer Lust um die gläserne Kuppel des Kristallpalasts, als hätten sie an diesem Tag das Fliegen zum allerersten Mal entdeckt.
    Kaum ertönte die Sirene, legte Victor die Arbeit nieder und stieg von der Leiter. Es war Zahltag, und er hatte es selten so eilig wie heute gehabt, sein Geld zu bekommen. Zusammen mit Scharen von anderen Arbeitern verließ er das Gebäude, um in der Bürobaracke seinen Wochenlohn abzuholen. Nur das Regiment Soldaten, das am Morgen in friedlicher Mission eingetroffen war, marschierte weiter im Gleichschritt über die Galerie des Transepts, um die Einsturzgefahr der Wandelgänge bei hoher Belastung zu erproben.
    Victor beschleunigte seinen Schritt und überquerte den Platz. Nur noch einmal schlafen, dann würde er Emily sehen! Sie hatten sich für den nächsten Tag am Drury-Lane-Theater verabredet. Sie wollte noch einmal mit ihm in seine alte Welt zurückkehren. Doch er würde sie überraschen, sie von seinem Geld in ein Restaurant in der Fleet Street einladen. Wozu sollte er ihr noch seine alte Welt zeigen? Er war ja gerade im Begriff, sie selbst für immer zu verlassen. Hoch oben in den Lüften, viele hundert Fuß über der Erde, hatte er begriffen, dass es noch etwas anderes gab als das Elend und den Dreck und die Not, die er bisher nur kannte. Es gab Träume und Wünsche und Hoffnungen, für die es sich zu leben lohnte. Und es gab Emily!
    »Vorsicht, Mr. Paxtons Liebling kommt!«
    »Dass sich keiner bückt! Arschkriecheralarm!«
    Victor überhörte die Bemerkungen, als er sich in die Schlange der Arbeiter einreihte, die in der Bürobaracke auf ihren Lohnwarteten. Seit dem Ende des Streiks pöbelten ihn manchmal Kollegen an, aber es waren nur ein paar wenige, die das taten, und er hatte beschlossen, sie nicht zu beachten. Warum auch? Er spürte noch immer Emilys Kuss auf seinen Lippen, und dieses Gefühl erfüllte ihn mit der ruhigen Gewissheit, sich richtig entschieden zu haben. Mr. Paxton war ganz anders, als seine Mutter behauptet hatte, er war kein fauler Apfel, er hatte Wort gehalten und den Stückakkord aufgehoben und sogar in einem offenen Brief an Premierminister Russell, den die
Times
abgedruckt hatte, freien Eintritt für alle Besucher der Weltausstellung verlangt, damit jeder Interessierte die Möglichkeit bekam, die Wunder der Menschheit zu sehen, gleichgültig, ob er arm war oder reich.
    »Hier unterschreiben!«
    Als Victor die Quittung für den Empfang seiner Lohntüte dem Buchhalter zurückgab, schaute der unter seiner Schirmmütze auf.
    »Wie ist Ihr Name? Victor Springfield?«
    »Ja, das bin ich!«
    Der Buchhalter schob ihm die Lohntüte zu und stand auf: »Bitte kommen Sie mit.«
    »Mitkommen? Wohin?«
    Ein kurzer verrückter Gedanke, so verrückt wie ein bunter Gummiball, schoss Victor durch den Kopf. Sollte es wirklich wahr sein, was Harry Plummer ein paarmal angedeutet hatte? Dass man Victor zum nächsten Ersten befördern wollte?
    Der Buchhalter stand schon in der Tür und nickte ihm zu.
    »Ins Direktionsbüro. Mr. Paxton will Sie sprechen.«
    Vicor biss sich auf die Lippe. Was auch immer er gedacht und sich vorgestellt hatte – das

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